Montag, 29. Dezember 2008

1958: Tramp-Fahrt über Hamburg nach Marokko


Eigentlich ohne richtiges Ziel brach ich am 5. Mai 1958 per Autostop zu einer Reise auf. Einen Monat vorher hatte ich meine Schriftsetzerlehre mit der Gehilfenprüfung erfolgreich abgeschlossen und wenig später meine ungeliebte Arbeitsstelle aufgegeben. In der Tasche hatte ich vermutlich 200 oder 300 Mark aus meinem ersten Gehilfenlohn. Mein eigentlicher „Plan“ freilich bestand damals schon, mich zum nächstmöglichen Abendkurs der Volkshochschule Gießen zur Erlangung des Abiturs anzumelden, und der begann, wie ich wohl wusste, erst Anfang 1959. Vermutlich wollte ich die Zeit bis dahin einfach herumreisen, möglicherweise mit einem Abstecher nach Skandinavien. Doch bereits wenige Tage nach Reiseantritt blieb ich in Hamburg regelrecht „hängen“: Mir wurde in der Jugendherberge „Am Stintfang“ meine fast noch neue Jacke aus weichem Velour-Leder mitsamt meiner Brille und meinem Reisepass gestohlen, die ich während eines morgendlichen Waschgangs im Mehrbetten-Quartier der JH zurückgelassen hatte. Für alle drei Gegenstände musste irgendwie Ersatz beschafft werden. Mit mir genommen hatte ich wenigstens mein Geld. Es wurde August, ehe ich Hamburg endgültig wieder verließ, und jetzt erst „reiste“ ich wirklich – bis Nordafrika. Über diese Zeit existieren unterschiedliche Aufzeichnungen, aus denen im Folgenden mit eingeschobenen Erklärungen zitiert wird.
Montag, 5. Mai: Auf Fahrt gegangen. Köln (per Autostopp ohne rechtes Ziel über Frankfurt, Wiesbaden, wo ich von einem LKW-Fahrer gezwungen wurde, ihm beim Abladen von sieben Tonnen Butter, verpackt in 25-Kilogramm-Kartons, zu helfen. Wofür er mich mit einer Flasche Milch „entlohnte“ und wenigstens noch bis Limburg mitnahm. Ähnliches passierte mir nie wieder!). 6. Mai: Köln-Rotterdam (von der dt.-holländischen Grenze an mit einem Holländer, der sich als Journalist ausgab). 7. Mai: Rotterdam- Amsterdam. 8. Mai: Amsterdam-Scheveningen–Amsterdam. 9. Mai: Amsterdam-Oldenburg (zeitweise zusammen mit einem Schweizer aus Bern namens Raphael Glathe). Samstag, 10. Mai: Oldenburg-Hamburg (in der Jugendherberge Oldenburg begegnete ich erstmals Mormonen, die an einem Kongress in O. teilnahmen).

Sonntag, 11. Mai: Morgens Jacke und Reisepaß gestohlen (mit dem Reisepass wollte ich nach Skandinavien. Mit mir wurde auch Johann Potrebny bestohlen, ein damals 27-jähriger Wiener und Absolvent der Hochschule für Welthandel in Wien, der gerade von einer Finnland-Reise zurückgekommen war und jetzt praktisch mittellos dastand). 12. Mai: Arbeit gesucht (zusammen mit einem Österreicher aus Eisenstadt. Als wir auf einem der Hamburger Arbeitsämter nach Arbeit auf einem Bau fragten - ich rechnete ja nur mit einem vorübergehenden Aufenthalt in Hamburg -, empfahl man uns ziemlich rüde, uns selbst etwas zu suchen, was uns tatsächlich auch auf einer Baustelle in Eimsbüttel gelang), Paß beantragt (bei wem, wie und wo, ich weiß es nicht mehr, zuständig war ja die Kreibehörde Wetzlar).

13. Mai: Arbeit (zusammen mit dem bereits erwähnten Österreicher) auf einem Bau aufgenommen (bei der Firma Ehlers Heinrich, Bauausführungen, Hamburg, Alt Langenfelder Str. 57 - 59, die Wohnblöcke am Sandweg in Eimsbüttel baute).Freitag, 16. Mai: Aus einen Brief nach Hause: „Diesen Brief schreibe ich in der Hütte (das eigene Foto von 1973 zeigt etwa die Stelle, wo diese Bauhütte stand) des Bauführers, hier schlafe ich mit einem Österreicher zusammen, er ist erst siebzehn und ziemlich altklug, ansonsten habe ich nichts weiter mit ihm zu tun, als daß er mir ca. 17 Mark schuldet, aber was blieb mir anderes übrig, er bettelte mich an, da er völlig ohne Geld hier anfing und sonst nichts zu essen gehabt hätte. Ich schlafe auf zwei Bänken in einem Schlafsack, den ich für 8 Mark von einem österreichischen Studenten (jenem bereits erwähnten Johann Potrebny) kaufen werde, aber es ist kalt und hart. Meine Arbeit bestand bisher aus Klinkerputzen (in den Küchen und Bädern, um die Wohnungen zur Bauabnahme vorzubereiten), man wird saumäßig staubig. Mein einziger Wunsch ist, einen neuen Reisepaß zu bekommen, dann würde ich mir eine Jacke kaufen, ein Visum für Spanien besorgen und dorthin trampen. Wie kam ich hierher? Von Steinbach aus nahm mich ein LKW nach Frankfurt mit, dort blieb wieder ein LKW stehen, der Fahrer sagte, er nehme mich bis Limburg mit, doch er fuhr noch nach Wiesbaden, wo wir 7 Tonnen Butter ausluden, aber er fuhr doch nach Limburg. Von dort kam ich über allerlei Umwegen nach Köln. Von Köln fuhr ich am zweiten Tag nach Rotterdam, die größte Strecke mit einem holländischen Journalisten, der borgte mir 25 cents für die Straßenbahn. Rotterdam-Amsterdam war die nächste Etappe. In Amsterdam entschied ich mich statt mit einem Deutschen nach Süden mit einem Schweizer nach Norden zu trampen. Der Schweizer und ich trennten sich Samstag in Bremen. Montag wollten wir uns treffen und zusammen nach Kopenhagen fahren, doch wurden mir eben am Sonntagmorgen meine Sachen gestohlen. Zuerst war ich ganz niedergeschlagen, aber daß einem österreichischen Studenten 50 Mark, sein einziges Geld, auch gestohlen wurden und er diesen Schlag parierte wie ein Mann, gab mir doch wieder etwas Kraft, und so suchte ich mir eben mit dem siebzehnjährigen Österreicher, der nun bei mir ist, Arbeit, die wir auch bald fanden. Holland und besonders die Tage dort brachten mir eine richtig glückliche Zeit, einen Tag war ich mit einem jungen Deutschen aus Duisburg mit der Bahn in Scheveningen, einem ganz wunderbaren Badeort an der Nordsee, und die zwei Tage mit dem Schweizer waren nicht weniger glücklich, wir verstanden uns prächtig. Ich war recht traurig, als wir uns trennten. Vorhin habe ich eingekauft: Eine Butterdose, eine Brotbüchse, ½ kg Haferflocken, eine Flasche Milch, ¼ kg Zucker, ich hoffe, daß das richtig ist. Ich weiß eigentlich nicht, was ich sonst essen soll. Brot, Brot, Milch, Haferflocken, das ist alles, die anderen Dinge kommen zu teuer und Kochgefäße habe ich nicht. Noch etwas: Gerhard soll doch bitte zu Pfarrer Diciol gehen und ihn fragen, ob schon irgendeine Nachricht aus Frankreich da ist, ich lasse ihn herzlich grüßen. Meine Adresse: Hamburg-Eimsbüttel, Sandweg - Baustelle Ehlers.“

Montag, 19. Mai:
An meiner Lage hat sich kaum etwas geändert, als daß ich einen Brief von zuhause bekommen habe, in dem mir versprochen wurde, etwas meines Passes wegen zu unternehmen. Gestern habe ich von Johann (Potrebny), dem österreichischen Studenten eine Lederjacke und den schon vor ein paar Tagen in Gebrauch genommenen Schlafsack für 75 Mark gekauft. Gestern war ich morgens in der Hl. Messe, dann ging ich in die JH, wo ich Johann traf; er und noch zwei Jungs und ich gingen dann, nachdem sich Walter (mit dem zusammen ich den Job in Eimsbüttel gefunden hatte) noch dazugesellte in eine Gastwirtschaft und sahen uns das Deutsche-Meisterschafts-Spiel an (also das damals noch übliche Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft, diesmal zwischen Schalke und HSV , Schalke gewann mit 3:0). Abends ging ich in Eimsbüttel spazieren und anschließend in die Mai-Andacht. Mittwoch, 21. Mai: Heute habe ich einen Brief von Herrn Pfarrer Diciol bekommen, in diesen Brief hat er noch 20 Mark als Beitrag für den Kauf einer neuen Jacke gelegt. Hoffentlich hat er meinen Brief nicht als Bettel angesehen, ich war wirklich nicht darauf angewiesen, Geld zu erbetteln für eine neue Jacke. Gestern habe ich eine Karte von zuhause bekommen, in der mir gesagt wurde, daß mein Paß, der neu ausgestellt wurde, und der Rucksack bald hier ankommen würden. Abends war ich in der Jugendherberge. Dort traf ich (Jürgen) Höhn, einen der Mitangeklagten bei unserem Prozeß (Wilhelmi-Prozess im November 1957) , und Horst Bender („Druckesch Horst“, Alterskamerad aus Krofdorf), beide waren sie natürlich überrascht, mich hier oben zu treffen. Auf dem Heimweg mußte ich vor Durst eine Flasche Bier trinken.

Donnerstag, 22. Mai: Heute bekam ich allerhand. Ein Paket mit dem Rucksack, Eßwaren und einen Brief von Bill und Helga. Helga antwortete ich gleich. Geld bekam ich auch, 61 Mark (wahrscheinlich Lohn). Heute fühlte ich mich das erstemal richtig frei. Es kann kommen , was will - irgendwie fühlte ich mich frei, mein Glaube zu Gott hat tief Wurzeln geschlagen.

Pfingstsonntag, 25. Mai:
Vorgestern Abend als ich nachhause kam, nach einem Bummel auf der Reeperbahn, schüttete ich eine offene Dose Speiseöl auf den Boden und beschmutzte so meinen Rucksack und die darin befindliche Hose. Gestern Abend war ich mit Johann und Walter im Kino: In einem anderen Land. Kurz nachdem wir das Kino verlassen hatten, wußte ich, daß ich meinen Finnendolch verloren habe. Gestern bis heute morgen um 3 war ich auch noch in einem Tanzlokal, das sich Existenzialistenkeller nennt. Meine Lederjacke hat mich gestört. Dort lernte ich ein feines Mädchen aus Helgoland kennen (das dort - wie es erzählte - bei der AOK arbeitete und lediglich für ein Wochenende zum Vergnügen nach Hamburg gekommen war). Heute dachte ich, das Maß sei voll. Man hat in unsere Bude eingebrochen, die Sachen durchgekramt, scheinbar jedoch nichts mitgenommen. Ich war wie von Sinnen als ich das hörte (vom Nachtwächter, der nichts bemerkt hatte), doch schnell konnte ich mich beruhigen, nachdem ich festgestellt hatte, daß man mir nichts entwendet hat.

Dienstag, 27. Mai: 3 Briefe geschrieben, in dem nach Hause unter anderem folgendes: „Die drei Feiertage vergingen wie im Flug: Auf der Alster segeln, auf der Reeperbahn tanzen und in der JH essen, das waren meine Zeitvertreibungen. Wir zogen mit einer Clique durch Hamburg (dazu gehörte auch, worüber ich freilich nichts schrieb, dass wir bereits am 2. Abend meines Hamburg-Aufenthaltes durch die Ulricusstraße, einer Bordellstraße in der Innenstadt, zogen, links eigens Foto von 1958, an deren Stelle heute das Unilever-Haus steht) und ich weiß wir fühlten uns recht wohl dabei, dabei allerlei Unsinn anzustellen. Aber etwas macht mich unruhig, denn eigentlich hängt mir Hamburg schon zum Hals raus und mich zieht es weiter; mein Reisepaß ist noch nicht eingetroffen, jeden Tag rufe ich das Revier 13 an (das für die JH zuständige Polizeirevier, wo ich den Diebstahl meiner Sachen gemeldet hatte), bisher eben ohne Erfolg. Hoffentlich klappt es bis Samstag, denn Montagmorgen will ich losfahren nach Kopenhagen. Von dort zurück nach Bolton zu Bill, der mich in seinem Brief zu sich eingeladen hat.“. - Heute allein gearbeitet .

Mittwoch, 28. Mai: Mein Reisepaß ist noch nicht gekommen. Ich habe diese Bude satt und vor allem die Arbeit. Ich rief schon zum drittenmal an, um etwas über meinen Reisepaß zu erfahren, jedoch wieder ohne Ergebnis. Heute Brief bekommen von zuhause, der sagt, daß man dort glaubt, ich hätte den Paß schon. Ich hasse diesen Österreicher wie die Pest.
Aus einen Brief nach Hause: „Freitag will ich aufhören zu arbeiten, das Wetter ist miserabel und Ihr könnt Euch vorstellen, daß ich nicht geneigt bin, meine Klamotten zu ruinieren. Zwar drücke ich mich bei der Arbeit, wo ich kann, trotzdem: Bauarbeiter sein ist eine üble Sache, nun bin ich doch froh, einen Beruf zu haben. Das Essen ist eintönig, aus Mangel an Phantasie. Manchmal esse ich in der JH, wie etwa Pfingsten über, dennoch bin ich selbst nicht zufrieden mit mir, Brot und Milch, Milch und Brot. Wenn ich bis Freitag arbeite habe ich etwa 350 Mark, nicht besonders viel, aber ich hoffe, wenn nichts dazwischen kommt, damit auszukommen. Ihr fragt, warum ich mir eine Pelzjacke gekauft habe. Die Jacke ist recht ansehnlich und der Pelz ist nicht hinderlich und vor allem: hier ist es bitter kalt, und hätte ich eine andere Jacke gekauft, wäre es nicht möglich gewesen, den Pullover heimzuschicken. Eine Brille habe ich noch nicht, ich werde mir auch keine anschaffen. Ins Kino brauch ich nicht gehen und ans Lesen ohne Brille habe ich mich wieder gewöhnt. Was habe ich Pfingsten gemacht? Wir waren tanzen auf der Reeperbahn, montags haben wir, zwei Österreicher, zwei Bremer und ich auf der Außenalster gesegelt (und sind dabei, was ich nicht schrieb, auf Grund gelaufen). Das war auf jeden Fall eine tolle Sache. Aber zuviel Geld ausgegeben. P. S. Mir kann es egal sein - aber kauft Euch kein so Scheißding wie einen Fiat 500 - ein guter Rat.“ (was sie aber dann doch taten). Donnerstag, 29. Mai: Endlich ist der Österreicher weg. Heute war ich in der JH essen.

Freitag, 30. Mai: Aufgehört auf dem Bau zu arbeiten (vom 17.5. bis 30.5. an 16 Tagen und insgesamt 125,5 Stunden, gegen einen Bruttolohn von 261,04 DM = 2,03 DM pro Stunde, wovon mir nach Abzügen an Lohnsteuer, Kirchensteuer und Sozialversicherung 210,09 DM ausbezahlt wurden). Ich sitze hier und warte, daß meine Sachen trocknen mögen, die ich gewaschen habe bzw. in einer Wäscherei waschen ließ. Samstag, 31. Mai: Nun werde ich langsam ratlos, kopflos. Der Bauführer hat durch ein Versehen mein Gepäck in seinem Zimmer eingeschlossen. Hamburg-Buxtehude (per Autostop).
Aus einem Brief nach Hause: „Mir wurde es ungemütlich in Hamburg, die Arbeit habe ich aufgegeben und bin ein Stückchen ‚aufs Land’ gefahren. Heute hoffte ich doch ganz fest, er sei schon eingetroffen. Aber der Wachtmeister, der mich nun schon kennt, bedauerte, der Paß sei noch nicht da“.

Sonntag, 1. Juni: Buxtehude-Stade. Montag, 2. Juni: Stade-Hamburg. Gestern stand ich hier in Stade 2 Stunden vergebens, keine Auto nahm mich mit und heute (auf der Rückreise nach Hamburg) sieht es nicht viel besser aus. Zunächst denke ich immer daran, wie schön es wäre, jetzt ein Fahrrad zu besitzen, doch erinnere ich mich an die Qualen einer langen Fahrradreise, muß ich es doch wieder verwerfen. Nach 3 ¼ Stunden Warten in Stade hat mich doch ein Wagen bis Buxtehude mitgenommen (an der Auffahrt Stade oder Buxtehude traf ich das mir gut bekannte Ehepaar Seidler aus Krofdorf, das auf einem Motorroller urlaubsmäßig unterwegs war). Nun bin ich doch noch ganz schnell nach Hamburg gekommen. Mein Paß noch nicht da. Dienstag, 3. Juni: Hamburg-Lübeck und ich habe keinen Reisepaß. Nun sitze ich hier in Lübeck mit Groll im Herzen. Nun will ich versuchen, am Tag nicht mehr als 4 Mark auszugeben (von Hamburg nach Lübeck fuhr ich mit einem Italiener, der mich in seinem Alfa Romeo bis Kopenhagen mitgenommen hätte - hätte ich schon meinen sehnlich erwarteten Reisepass gehabt).

Nach Berlin - zum erstenmal überhauptMittwoch, 4. Juni: Das war ein Liften. Lübeck-Hamburg-Berlin. Zuvor habe ich in Lauenburg an der Grenze 3 Stunden warten müssen, jedoch mit einem Berliner zusammen, wir langweilten uns nicht - und bekamen einen Wagen direkt bis Berlin. Durch die Zone, welch ein Unterschied zwischen unserer Republik und dieser. Der Eindruck war wie erwartet, vielleicht sogar etwas gemildeter, die Menschen waren ganz ordentlich angezogen, aber das Bild der Häuser, der Dörfer, erschreckend für einen vom Westen. Wie fühlen sich die Menschen wohl hier? Die erste JH war voll besetzt, aber in der zweiten, ein Schiff, fand ich noch Platz (ein zur Jugendherberge umgebauter Flusskahn am Tegeler See, eigenes Foto rechts). Freitag, 6. Juni: Gestern bin ich mit einem Lübecker (Gernot Zielke) und dem Berliner vom Mittwoch nach Ostberlin gefahren. Dort besuchte ich das Bode-Museum mit ägyptischer Kunde (?),byzantischer Kunde, alten Möbeln und Kunstgegenständen des Barock. 10 Mark Ost hatte ich in der Tasche. Ich kaufte mir eine Pfeife und Tabak (ich Nichtraucher!), und vor allem Zeitungen. Ostberlin ist grau und zerbombt, die Geschäfte erscheinen staubig, Parolen schreien die Menschen an, und doch sieht man, wie lustlos alles zugeht. Heute war ich wieder drüben, kaufte mir Zeitschriften und besuchte das Zeughaus, das man dazu benutzt, den Sieg des Sozialismus zu verkünden, eine wirklich gute Methode, wieviele junge Menschen werden sich schon im Netz der Lügen gefangen haben, sie klingen so schön, diese Lügen, wenn man die Wahrheit und den Westen nicht kennt. Auch war ich am sowietischen Ehrenmal. 7. Juni: Berlin. Sonntag, 8. Juni: Berlin–Hamburg (in einem Kleinbus mit zahlenden Passagieren, dessen Fahrer mir „einen Sechser“ abknöpfte, womit er eigentlich nur 5 Mark meinte, aber doch die 6 Mark nahm, die ich ihm aus Unkenntnis der Wortbedeutung „Sechser“ gab).

Wieder in Hamburg und dort geblieben bis AugustMontag, 9. Juni: Nun habe ich alles über den Haufen geworden und habe mir wieder Arbeit gesucht. Diesmal als Setzer (als ich bei dem Arbeitsvermittler im Arbeitsamt Besenbinderhof eintrat und sagte, dass ich Setzer sei, überschlug der sich fast, forderte mich zum Sitzen auf und sagte mir, dass in Hamburg 50 Setzerstellen frei seien. Meine einzige Bedingung gegenüber einem potentiellen Arbeitgeber war die Vermittlung eines Zimmers. Er kontaktierte Fritz Scheffler, Chef der gleichnamigen Druckerei an der Kaiser-Wilhelm-Straße, links eigenes Foto von 1958, der ihm wohl eine entsprechende Zusage machte. Die Druckerei befand sich im 2. Haus von links im 1. Stock. Dazu gehörte auch ein Großhandel für Medikamente. Ich bekam ein Zimmer in Hamburg 39, Bilserstraße 8 g bei einer älteren Witwe namens Wolf. In einem Brief nach Hause: „Heute habe ich mir, da ich die dauernde Lauferei satt hatte, Arbeit gesucht und sie sofort bekommen, d. h. hier werden etwa 50 Setzer gesucht, und ich war wieder einmal einer, der nachgefragt hat. Den ganzen Tag habe ich versucht, in einem Jugendwohnheim Unterkunft zu finden, doch überall wies man mich wegen Überfülltheitab. Abends hat mir dann mein Chef gleich zwei Zimmer besorgt. Der Preis ist zwar hoch, 70 Mark im Monat, dafür habe ich aber einen Stundenlohn von 2,60 (erinnere ich mich richtig, betrug der Tariflohn für Setzer im 1. Gehilfenjahr damals ca. 2,10 Mark). Ich bin ganz allein in der Setzerei und deshalb ganz auf mich angewiesen, wie ich das fertigkriegen soll, weiß ich noch nicht. Der Paß wird nun, da der Polizeibeamte Euch eine Karte geschickt hat, richtig beim Polizeirevier 13 ankommen (tat es aber nicht). Noch etwas zu dem Paß: Es war vollkommen müßig, die Eimsbütteler Polizei anzurufen, da ich nie etwas sonst mit der Polizei zu tun hatte als mit dem Revier 13, und das ist in St. Pauli, deshalb konnte die Eimsbütteler Polizei nichts wissen. Es ist nicht strafbar, als Durchreisender unangemeldet zu arbeiten, diese Angst ist unbegründet“.

Dienstag, 10. Juni: Das war also wieder einmal ein erster Arbeitstag, wieder eingekerkert in einer Bude und draußen strömt der Sonnenschein vorbei, den ich in vollen Zügen genießen könnte, hätte nicht dieser Dieb mich bestohlen. Ich muß versuchen (soviel Geld zu sparen), um mich dann wirklich für eine längere Zeit freizumachen. Dann werde ich nicht mehr „trampen per Auto“ sondern „trampen per Rad“, das nehme ich mir fest vor, denn ich bin es leid geworden, auf der Straße zu stehen und zu warten, bis es einem Autofahrer gefällt, mich mitzunehmen.

Donnerstag, 12. Juni: Mich machen meine Geldausgaben unruhig. Morgen werde ich auf der Bank Geld einlegen, um eine bessere Übersicht zu gewinnen, ich werde nun sparen, ganz gleich für was. Heute haben mich ein paar kleine Mädchen meiner Frisur wegen verspottet. Ich habe Hunger, in einer Imbißstube aß ich ein Schnitzel mit Kartoffeln, doch weder das Schnitzel noch die Kartoffeln besiegten meinen Hunger. Freitag, 13. Juni: Nun muß ich mir wieder Sorgen um meine Gesundheit machen, mein Herz arbeitet nicht so wie man es erwarten könnte, es macht Sprünge, setzt aus, es macht sich eben auf irgendwelche Weise bemerkbar und das beunruhigt mich. Scheinbar hat es sich damals, als ich mich zum Arzt begab, weder um eine Entwicklungserscheinung gehandelt noch um eine nervöse Kleinigkeit, denn sonst würde ich nicht wieder davon gequält werden. Vor allem verliere ich das Gefühl, jung zu sein. Nachdem ich den ersten Lohn bekommen habe, legte ich mir heute ein Sparbuch an. Zunächst habe ich 250 Mark eingezahlt. In der Jugendherberge traf ich einen ziemlich angeschlagenen Bekannten, er ist mit dem Zug aus Stockholm gekommen, dorthin kam er aus Finnland, doch er besaß kein Geld mehr. Ich lernte ihn einen Tag vor dem Diebstahl meiner Jacke kennen, damals war er mit seinen beiden Freunden in bester Stimmung.
Aus einem Brief nach Hause: „Ich habe mir bereits ein Sparkonto eingerichtet. Mein wöchentlicher Verdient ist 100 Mark netto. Die Möglichkeit, noch mehr zu verdienen sind hier groß. Ich bekam vor ein paar Tagen von einem Schwedenfahrer ein Bild gemacht von dem Elend, das unter den zumeist noch sehr jungen Tramps herrscht, die sich Stockholm als Reiseziel vorgenommen haben. Sie schlafen in Parks und Straßengräben, stürmen die deutsche Botschaft, weil sie sich die falsche Vorstellung gemacht haben, im reichen Schweden durch irgendeine Arbeit, sprich Tellerwaschen, das Geld zu erwerben, mit dem sie sich dort aufhalten wollten (Schweden war damals in den 1950-er Jahren ein begehrtes Ziel für junge Burschen, die nicht nur auf guten Verdienst sondern auch auf die Bekanntschaft schöner Schwedinnen hofften). Damit will ich keineswegs sagen, daß ich Schweden als Reiseziel mir vorgenommen habe. Hier gibt es die sogenannten KB-Expreß-Küchen („meine“ KB-Expreß-Küche, links eigenes Foto von 1958, befand sich Ecke Dammtorstraße/Drehbahn, später befand sich darin eine Agentur des „Hamburger Abendblatt“), das Essen dort ist nicht teuer, pro Portion rund 1,20 Mark, jedoch richtig satt werden davon vermag man nicht, doch man gewöhnt sich daran bzw. ich habe ja eigentlich nie viel gegessen. Heute Abend habe ich einen kleinen Erkundungs-Spaziergang gemacht, dabei kam ich in den hiesigen Stadtpark, der etwa einen Kilometer von hier liegt, ich mußte feststellen, daß ich selten einen so schönen Park gesehen habe, ausgenommen den Berliner (in Berlin bin ich geradezu verliebt). Ihr schreibt etwas, als wolltet Ihr mich besuchen kommen, tut das aber erst, wenn ihr einen eigenen Wagen habt".

Dienstag, 17. Juni: Nach einem ausgiebigen Mittagsmahl in der JH ein längeres Gespräch mit Jean, wie ich den österreichischen Studenten (Johann Potrebny) nenne. Mittwoch, 18. Juni: Erschüttert von der Nachricht der Hinrichtung von ungarischen Freiheitskämpfern als ich die Namen Maleter und Nagy las. Sicher, Nagy war ein Kommunist, jedoch er ist zur Einsicht gelangt, sein Handeln hat das gezeigt, daß der Politiker zunächst für sein Volk Opfer zu bringen hat und er brachte das Opfer, denn er war einer der wenigen, die vom kommenden Zusammenbruch des Aufstandes wissen mußten. Donnerstag, 19. Juni: Heute habe ich einen Brief von Helga (Kirchner) bekommen, er hat mich sehr erquickt. Heute unterhielt ich mich mit Jean über den Vorteil, den ich gegenüber anderen besitze. Alles schön und gut, mir wäre es trotzdem lieber, das Abitur abgelegt zu haben. Freitag, 20. Juni: Nach dem Gespräch mit Herrn Scheffler fühlte ich mich zunächst ziemlich abgeworfen, ich sah eine Gelegenheit, doch über den praktischen Weg in den Journalismus Eingang zu finden, entschwinden (erinnere ich mich richtig, hatte ich meinen Chef gefragt, ob er für mich einen Weg sehe, vielleicht bei der Bildzeitung eine Stelle als Volontär zu bekommen, worauf er mir antwortete, dass dies ohne Abitur nicht möglich sei).

Montag, 23. Juni: Heute erhielt ich ein Paket von zuhause mit Kleidung. Ich habe es ja verlangt. 24. Juni: Ich glaube, ich muß jede Möglichkeit annehmen, die sich mir bietet, mich zum Studium (welches ? Keine Ahnung mehr) vorzubereiten, außer einer: Tagsüber arbeiten und abends und nachts lernen. Optimistisch bin ich nicht, dennoch will ich hoffen. 25. Juni: Heute wird es zwei Jahre her, da ich Helga kennengelernt habe.
In einem Brief nach Hause: „Der Kuchen ist aufgegessen, das Schnitzel ebenfalls; hat gut geschmeckt, herzlichen Dank dafür - an Großmutter für den Kuchen und die Schokolade“.

Samstag, 28. Juni: Heute habe ich meinen Paß bekommen und mich polizeilich angemeldet.
In einem Brief nach Hause heißt es dazu: „Nun weiß ich ganz genau wo mein Paß liegt: Bezirksamt Eimsbüttel. Die Polizisten haben mich sehr ordentlich behandelt, einer jedoch fragte mich, ob ich vom ambulanten Gewerbe sei, außerdem habe er ein andermal gehört, ich sei Seemann. Aber irgendwie bin ich den Polizisten dankbar, sie haben sich wirklich darum bemüht, wenn auch eigentlich sie es waren, die das holde Durcheinander in die Sache gebracht haben“ (ich war telefonisch über meinen Chef ins Polizeipräsidium am Karl-Muck-Platz, eigenes Foto von 1958, wenige Schritte von meinem Arbeitsplatz entfernt, bestellt worden. Der Beamte fragte mich, ob ich wisse, worum es sich handele. Ich: Keine Ahnung: Er: Aber Sie haben doch einen neuen Pass beantragt. Also den könne ich mir im Bezirksamt Mitte, das sich in den Grindelhäusern befinde, abholen. Noch heute ist es mir rätselhaft, auf welchem Wege man erfuhr, dass ich bei Scheffler arbeitete und wie der Pass in das Bezirksamt gelangt. Letzteres wahrscheinlich wohl dadurch, dass man dem Passbeamten in Wetzlar, wo das neue Papier beantragt worden war, sagte, ich wohne in Eimsbüttel - tatsächlich damals ja dort unangemeldet nur in einer Baubude).
29. Juni: Jetzt, da ich den Reisepaß wieder besitze, hat mich wieder das Reisefieber gepackt. Aber ich muß abwarten, welche Antwort ich auf die Frage nach einem gangbaren Weg bekomme, die ich Herrn Pfarrer Diciol gestellt habe (was war das für eine Frage?). Montag, 30. Juni: Gestern verbrachte ich einen recht angenehmen Tag, morgens besuchte ich die Kirche, das Mittagessen (in der Jugendherberge, wo ich gelegentlich zum Essen hinging) bestand aus zwei Portionen, danach spazierte ich durch das Museum für Hamburgische Geschichte. Ich ging in die Jugendherberge zurück. Dort machte ich Bekanntschaft mit einem Mädchen, zwei Amerikanern und einem Berliner. Heute verlief ich mich an den Rand von Alsterdorf, nahe dem Flugplatz. Dort bot sich mir ein Bild, wie ich es eigentlich in diesem Ausmaß nicht mehr erwartet habe. Ein ganzer Stadtteil für sich, Hütten und Wellblechbaracken, schmutzige Menschen, denen die Primitivität und der Stumpfsinn in den Gesichtszügen stand. Und dennoch strömte durch die schmutzigen Gassen ein Hauch des Glücks, das schwermütig eingehüllt ist im Rauch der Schornsteine, im Lärm der Kinder und im Harmonikaspiel (noch heute bedaure ich es, dass ich davon kein Foto machte, hätte mich dazu aber auch wahrscheinlich nicht so recht getraut).
Freitag, 4. Juli: Gestern erhielt ich eine Karte mit der Ansicht Gleibergs, Vetzbergs und des Dünsbergs von Helga. Brille gekauft. Montag, 7. Juli: Die CDU hat die Nordrhein-Westfalen-Wahl mit absoluter Mehrheit (50,5 %) gewonnen. 8. Juli: Eben sprach ich bei dem hiesigen Jugendvikar vor, um mich über die Jugendarbeit, speziell über die freie, d. h. die an keine eigentliche Vereinigung gebundene, zu orientieren. Die Auskunft war negativ, denn außer der Kolpingfamilie bestehen nur ein paar Gruppen für Jüngere, also für etwa 10 bis 15jährige. An der Kolpingbewegung bin ich insofern nicht interessiert, weil sie sich ausschließlich aus Arbeitern zusammensetzt und mir deshalb nicht bieten kann, wonach ich verlange; geistige Bewegung im Glauben und nicht die praktische Hinwendung über wer weiß was für Dinge, Singen, Spielen oder gar Quiz (was für eine Arroganz!).

Mittwoch, 9. Juil: Chruschtschow besucht Ostberlin, um an dem Parteitag der SED teilzunehmen. Nach zehntägiger Haft in Russland, sind neun amerikanische Flieger wieder freilgelassen worden, die versehentlich russische Gebiet überflogen hatten und dabei zur Landung gezwungen wurden. Die neue italienische Regierung unter Fanfani tritt am Mittwoch vor das Parlament. Sein Gegner ist der Sozialdemokrat Saragat. Die Dreierkonferenz zwischen dem griechischen Außenminister Averoff, dem Präsidenten der Vereinigten Arabischen Republik Nasser und dem jugoslawischen Staatschef Tito soll sich vor allem des Balkanpaktes annehmen, der wegen der griechisch-türkischen Spannungenv nur noch zwischen Griechenland und Jugoslawien wirksam ist. 24 Stunden nach Ankündigung des Eoka-Führers Grivas wurden zwei britische Soldaten aus Rache erschossen. Nach dem CDU-Sieg in Nordrhein-Westfalen wurde Dr. Franz Meyers zum Ministerpräsidenten nominiert. Donnerstag, 10. Juli: Der englische Philosoph Bertrand Russel hat sämtliche Beziehungen zu dem kommunistisch gelenkten Weltfriedensrat abgebrochen. Eisenhower hält sich zu einem viertägigen Besuch mit Außenminister Dulles in Kanada auf. Freitag, 11. Juli: Amerikanische Rakete mit einer Maus in den Weltraum geflogen. Die Raketensspitze soll 9900 km von Cap Canaveral im Südatlantik gefunden werden. Unternehmen der Luftwaffe. Am Donnerstag Eröffnung der SED-Parteitage in O.-Berlin in der Werner-Seelenbinder-Halle. Vertr. von 46 komm. Parteien. Samstag, 12. Juli: Mir fehlt das, was man in der allgemeinen Volkssprache Protektion nennt. Mir fehlt die Beziehung zu Menschen mit Beziehungen. Sonntag, 13. Juli: Es war ein recht angenehmer Sonntagnachmittag, den ich mit Jean verbracht habe. Wir haben uns den Greta-Garbo-Film „Königin Christine“ angesehen.

14. Juli:
Heute Abend war Arno (Willershäuser, auf einer Tour als Beifahrer auf einem Motorrad) bei mir, zunächst glaubte ich, wieder einmal zu träumen, als meine Wirtin mir dies sagte. Doch dann traf ich ihn wahrhaftig in der JH.

Dienstag, 15. Juli: Militärrevolution im Irak. Republik ausgerufen. Das Schicksal König Faisals ungewiß. Premierminister Nuri es Saud soll getötet worden sein, der Kronprinz Abdull Illah soll noch kämpfen, Bildung eines Souveränitätsrats unter Generalleutnant Nagib el Ribaei und eines vierzehnköpfigen Kabinetts Armeestabschef Ahmed Saleh Abdi Militärgouverneur Chef der neuen Regierung und Oberbefehlshaber ist Abdel Kerim Kassem, der den Putsch durchführte. Mittwoch, 16. Juli: Amerikanische Truppen (5000 Marinesoldaten) landen im Libanon. Eisenhower versichert, daß dieser Schritt auf Bitten Libanons und nur bis zum Eingreifen der UN unternommen wurde. Landungszeit 14 h MEZ. London billigte das Eingreifen.

Donnerstag, 17. Juli: Bewegt sich die Menschheit wieder auf einen neuen Krieg zu? Diese Frage beschäftigt mich, seit die USA im Libanon einmarschiert sind. Es ist grauenhaft, sich diese Dummheit vor Augen zu halten. Internationale Wertpapierbörsen haben den Einmarsch der US-Truppen im Libanon günstig aufgenommen. Besonders die Ölwerte erholten sich. Briten stellen Truppen für ein evt. Eingreifen in Jordanien bereit. Sowietunion fordert Abzug der Landungstruppen mit der Drohung, sie würde nicht untätig zusehen. Amerikanische Truppen (Fallschirmjäger) werden in die Türkei verlegt. Englische Truppen besetzen Jordanien.

Freitag, 18. Juli: Immer denke ich daran, wie es möglich wäre, das Abitur doch noch abzulegen, das ich notwendiger als alles andere brauche. - Heute habe ich mir gleich drei Zeitungen gekauft „DIE WELT“, die Frankfurter Allgemeine und abends das „Hamburger Abendblatt“ (wollte ich nicht sparen?). Die Meldungen sind identisch, dennoch vermitteln sie ein plastisches Bild von den Geschehnissen. Die UdSSR infiltriert und hetzt, der Amerikaner interveniert, es muß zwangsläufig zu Zusammenstößen kommen.

Samstag, 19. Juli: Haare schneiden. Heute Morgen war ich Zeuge der Ankunft einer amerikanischen Flotteneinheit. Der Bundesrat hat das fünfte Strafänderungsgesetz (muss wohl Strafrechtsänderungsgesetz heißen) zum Schutz des Rufs ausländischer Staathäupter, genannt „Lex Soraya“ abgelehent. Sonntag, 20. Juli: Gestern war ich „aus“ in dem Lokal, dessen Wirtin mich vor ein paar Wochen mit der Begründung, man müsse hier Schlips tragen, hinausgeworfen hat. Ich fühlte mich recht wohl dort. Ich hatte nicht den Mut, mit einem Mädchen zu sprechen. Im Film: Der Nürnberger Prozeß. Montag, 21. Juli: Ich habe seit gestern seltsame Schmerzen, die sich von der Brustmitte bis zum Kehlkopf ziehen. Diese Schmerzen hatte ich nur bei großer Aufregung. - Mein Chef kam heute Nachmittag betrunken in den Betrieb, er spielte eine schmerzliche Komödie, zusammengesetzt aus Furcht vor dem Tod und Furcht vor materieller Not. Elend. Dienstag, 22. Juli: Heute morgen weckte mich der Wecker nicht, so kam ich zu spät zur Arbeit. Take it easy. Die Haut, diese Erzählung oder Roman klar ist mir nicht, ob es von (Curzio) Malaparte erdichtet oder selbsterlebte Geschehnisse sind, die er zu einer ungeheuerlichen Form verarbeitet hat. Dieses Buch stinkt nach Tod, es flimmert vor Erregung, Zynismus und offenem Hohn, es ist ein Angriff auf das verrottete Menschengeschlecht.

Montag, 28. Juli: Also, wann wollen Sie gehen, fragte mich mein Chef Fritz A. Scheffler heute Nachmittag, in der Hand einen aufgeschlagenen Taschenkalender haltend, unvermittelt; zuvor wandte er sich mir zu, als müsse er mir sagen, die Gefahr des Krieges, die sich dunkel am südöstlichen Horizont abgezeichnet hatte, sei gebannt. Meine Datumsangabe ließ ihn sich innerhalb dem Bruchteil eines Augenblicks eine vorher etwas legär (so geschrieben) wirkende Miene in ein keifendes, unwilliges Etwas verwandeln, sein Blick wurde hart und böse - ich erschrak und ärgerte mich zugleich über dieses Gefühl, mich vor diesem Menschen zu ängstigen. Nein, eine Woche später, der Herr Warner (mein einziger Setzerkollege, ein schon etwas älterer eingeborener Hamburger) geht am 11. (August) in Urlaub, können Sie nicht denken, nicht einen Augenblick denken. Schwein, dachte ich, und wurde rot über seinen Vorwurf. Warum, forschte er weiter. Ich will nach Berlin. Wozu nach Berlin. Zum Katholikentag, sagte ich. Ist doch uninteressant, fuhr er fort, ich habe auch einen Gott, dabei wies er auf seine Brust, einen besseren Gott vielleicht als Sie, ein Gott, der durch gute und böse Lebenserfahrungen gewachsen ist. Verachtend meinte er weiter, daß solche Massenveranstaltungen doch völlig unsinnig seien, warum gerade ich hinfahren würde. Diesmal schämte ich mich, als ich sagte, daß ich schon das Geld bezahlt hätte - ich verleugnete den wieder erwachenden Keim des Glaubens.

Dienstag, 29. Juli: Im Kino: Die seltsamen Wege des Pater Brown, Alec Guiness. Mittwoch, 30. Juli: Warum mußte ich wieder sagen, daß ich keine Lust mehr hätte zu arbeiten. Warum konnte ich nicht still sein und ihn (wohl meinen Chef) einfach reden lassen. Ich möchte meine morgendliche Fahrroute beschreiben. Straßenbahn: An der Haltestelle Wilhelm-Metzger-Straße steige ich ein, schon kurz darauf hinter der U-Bahnüberführung kommt die zweite Haltestelle Braamkamp, danach Lattenkamp, an der katholischen Kirche vorbei. Winterhude Marktplatz. Von hier aus gehen die Linien nach Eppendorf und St. Pauli, meine Bahnfahrt weiter bis U-Bahn Sierichstraße, hier steigt wieder ein Teil der Leute aus, um mit der U-Bahn weiterzu-fahren. Nun kommt Marie-Louisen-Dorotheenstraße, dann Leinpfad, hinter einer Alsterbrücke, von hier aus kann man auf einen Alsterdampfer umsteigen. Nach Harvestehuder Weg, wo die Straße anzusteigen beginnt, kommt Haltestelle Sophienterasse, rechts inmitten einer Anlage ist das Funkhaus des NDR. Die nächst Haltestelle Alsterchaussee ist auch Übergang zu Linie 8, ich glaube, es war die erste Straßenbahn, mit der ich in Hamburg fuhr. Rechts befindet sich die Anlage des Tennisclubs „Der Club an der Alster“ am Rothenbaum. Nun kommt die Böttcherstraße und Fontenay, danach Dammtorbahnhof, von hier aus zweigen die Linien nach Eidelstedt und, ich glaube, nach Eppendorf ab. Nach Stephansplatz mit dem Backsteingebäude der Oberpostdirektion rechts und weiter links mit der neuen Oper, in der zur Zeit das Moskauer Bolschoi-Ballett gastiert, kommt der Gänsemarkt. Hier steige ich aus und gehe durch den Valentinskamp zur Caffamacherreihe, die überquere ich, kaufe mir manchmal die Frankfurter Allgemeine oder Die Welt in einem Zeitungsgeschäft dort. Jetzt muß ich in eine schmale Seitengasse (Speckstraße) einbiegen, ein Verbindungsstück zwischen Kaiser-Wilhelm-Straße und Caffamacherreihe. In einem dort liegenden Milchgeschäft, man muß nach Art vieler kleiner Geschäfte hier in den Keller gehen, etwa in Höhe der Straße, trinke ich manchmal eine Flasche Milch und esse ein Stück Kuchen. Die Frau ist mir nicht sympathisch. Nun kann ich meinen Betrieb schon von hinten sehen, ein zerbombtes Haus, notdürftig wieder aufgebaut. Wenn ich mit der U-Bahn fahre, so nur, wenn es mir Spaß macht, etwas mehr zu Fuß zu gehen. Ich steige im U-Bahnhof Alsterdorf oder Lattenkamp ein, beide sind in etwa 10 Minuten zu erreichen. Nach Lattenkamp kommt Hudtwalckerstraße. Die nächste Haltestelle Kellinghusenstraße ist ein Umsteigebahnhof zum U-Bahn-Ring, rechts liegt das Bad. Klosterstern, Hallerstraße, Stephansplatz. Dort steige ich aus und habe etwas weiter zu gehen als mit der Straßenbahn. Vorbei an der Post, dem Opelgeschäft Dello, der Postbe-ratungsstelle wieder Valentinskamp. - Ich fühle mich wie Francois Villon, von dem ich gerade einen Roman lese (doch wohl eher über ihn).

Donnerstag, 31. Juli: Schon seit einiger Zeit habe ich bemerkt, wie leicht es mir fällt, wie ohne jedes Murren ich morgens aufstehe, früher als zuhause ich es getan habe. Es kommt wohl daher, daß ich abends früh zu Bett gehe, aber wohl nicht allein daher. Das Gefühl, allein auf sich gestellt zu sein, macht stark. - Nun habe ich doch die Entscheidung treffen müssen, er verlangte sie von mir und ich versprach ihn, noch bis zum 22. (August) zu bleiben, doch mit der ausdrücklichen Bemerkung, es ungern zu tun und nur unter einem gewissen Zwang seiner Wünsche. Ich habe einen Grund, um mich dieser Arbeit zu entledigen, meine Sehkraft wird dadurch immer mehr geschwächt, es gelingt mir bald nicht mehr, mich ohne Brille restlos zurechtzufinden.
Politik: Heute war ich im Amerikahaus in der Treptowstraße. Ich las eine Polemik über die Atombombe zwischen einem New Yorker Philosophieprofessor Sidney Hook und dem englischen Philosophen Bertrand Russel in der Zeitschrift „Der Monat“. Hoock deutete an, daß Russels Vorschlag, der einseitigen Abrüstung der freien Welt und damit die Verhinderung einer gewaltsamen Aufeinanderstoßung der zwei Machtblöcke, moralisch nicht vertretbar sei, da es eine Unterwerfung unter das totalitäre System des Kommunismus gleichkäme. Nur eine gleiche oder überlegene Stärke (des Westens) kann ihn (den Osten) davon abhalten, sich noch weiter auszubreiten.

Freitag, 1. August: Gerade habe ich einen kurzen Brief verfaßt, der meinen Eltern den Weg weisen soll zum Hauptbahnhof (darin schrieb ich außerdem: „Bitte bringt mir meine Uhr und den Photoapparat mit. Um die Zimmer kümmere ich mich noch. Gerhard kann bei mir schlafen oder auch in die Jugendherberge gehen.“). Ich befürchte wieder langwierige Verwirrungen (es sollte eine Reise im neuen Fiat 500 zu mir und eventuell weiter werden). Wie jeden Freitag seit ich bei Scheffler arbeite führte mich mein Weg zur Hamburgischen Sparcasse von 1827 (Haspa) an der Stadthausbrücke Nr. 12. In diesem Eckhaus lasse ich regelmäßig den größten Teil meines Verdienstes gutschreiben (vom 20. 6. bis 8. 8. jeweils freitags zwischen 35 und 75 Mark bei einer Abhebung in Höhe von 10 Mark, so dass ich schließlich - zusammen mit der ersten Einzahlung von 250 Mark - 670 Mark zusammenbrachte, wovon 650 in meine Reisekasse flossen). Nachdem ich dieses „Geschäft“ erledigt hatte, schlenderte ich die Großen Bleichen in Richtung Jungfernstieg entlang. Links, gleich am Anfang nach einem großen Parkplatz erhebt sich eine große Druckerei, Broschek + Co. Verlag, die Automaten zischten noch. Rechts nach der Haspa und einem Buchungsmaschinen-Geschäft: das Parkhaus, mehrere Stockwerke übereinander. (Etwas weiter) im Hinterraum eines Tabakgeschäftes füllte ich einen Lottoschein aus, mit der stillen Hoffnung, richtig getippt zu haben, legte ich 1,10 Mark auf den Tisch, hinter dem der Agent saß (in Wirklichkeit glaubte ich schon damals nicht ans „Lottoglück“ und spielte wohl auch nie wieder). Modegeschäfte, Buchhandlungen bis zum Jungfernstieg. Ich bog nach links ein, wieder taten sich mir die farbenprächtigen Perspektiven Hamburger Modejournal-Läden auf, Sporthemden, graue, unwahrscheinlich teure Pullover, Saccos, Mäntel, Hosen, all das kunstvoll gefaltet, in Falten gelegt, geschürzt und ausgebreitet ohne Benutzung der geschmacklosen Modepuppen. Mittlerweile bin ich wieder am Gänsemarkt angelangt. Im „Streits“ Kino sah ich mir noch die Bilder des Bolschoi-Ballett-Films an, ging noch einmal in das Foyer des Ufa-Kinos (am Gänsemarkt), um mir die Bildes eines funkelnagelneuen Film mit Vitorio de Sica anzusehen. Nach Lessingdenkmal hinschauend, stellte ich fest, daß sein Blick auf das Hamburger Abendblatt gerichtet war. Eine helle Taube saß auf seinem Kopf. Im KB Expreß in der Dammtorstraße aß ich eine außergewöhnlich große Portion Kartoffeln mit Hackfleisch und Rotkohl. Gesättigt, zufrieden mit der Welt, lediglich meine Kurzsichtigkeit als störend empfindend begab ich mich in Richtung Dammtorbahnhof. In einem Kiosk vor dem Botanischen Garten kaufte ich mir Die Welt, ein Stück weiter eine alte Nummer des „Spiegels“ für 20 Pfennig und ging zum Amerika-Haus.

Samstag, 2. August: In einem Park an der Elbchaussee. Ich habe mir Spanisch in 30 Tagen gekauft. - Es war ein wunderschöner Spaziergang, den ich heute Nachmittag unternommen habe. Ich fühlte mich einem freien Vaganten gleich, die Taschen voll Geld, mein Sparkassenbuch meine ich, die Frankfurter Allgemeine, Skizzenblock, dieses Tagebuch und meinen Paß - all dies war mein Eigentum, mein Königreich lag vor mir ausgebreitet. Mittwoch, 6. August: Mir scheint es, als rufe die Zimmersuche für den erwarteten Besuch meiner Familie allerlei Verwirrungen hervor. - Schon manches habe ich über meine Wege, kargen Erlebnisse (in Hamburg) geschrieben, niemals aber etwas von meiner Arbeit, besonders von dem fast vollendeten Satz für die Internationalen Tennismeisterschaften von Deutschland (mein Chef Scheffler brauchte mich fast ausschließlich für den Satz des Programmheftes und der laufenden Ergebnisse der Veranstaltung am Rothenbaum). Die Tennisprominenz der Welt marschierte in meinem Winkelhaken (das wichtigste Instrument für den Handsetzer, in dem er Letter um Letter aneinanderreiht, eigene Zeichnung vom 10. Juni) auf: Jaroslav Drobny, die beiden bereits ausgeschiedenen Favoriten Patty und Darman, Sivola, der lange Italiener, sein Landsmann Pietrangeli, Petrovic, der Inder Krishman, der scheinbar gut im Rennen liegt, die ausgeschiedenen Deutschen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe; im Gedächtnis haften geblieben sind mir aber die resignierten Worte des Tennisjournalisten Schmidt, der ihnen keine Chancen gab, aber auch keinen anderen als absoluten Favoriten hervorhob. Ein Riemen (Ausdruck für den Letternblock im Winkelhaken) nach dem anderen fiel aufs Schiff, eine Spalte nach der anderen wurde auf das Regal geschoben, es schien als wollte diese Tortur kein Ende nehmen, die Buchstaben (gemeint sind die Bleilettern) wurden knapp, besonders o und m, e und n. Im Nachruf eines Herrn Dr. Brandis, von mir gesetzt, wurde, als der Bogen schon durchgedruckt war und alle Seiten abgelegt waren, noch ein Kapitalfehler entdeckt, der Herr war nicht nur Mitglied des Deutschen Tennis-Bundes sondern er hatte auch eine Funktion im Deutschen Tennisverband, und dieses Faktum hatte ich einfach weggelassen. Man überklebte es kurzerhand.
Donnerstag, 7. August: Heute mußte ich wegen der Tennismeisterschaften bis ½ 7 in der Arbeit bleiben. So spät kommen noch Tagesergebnisse, die in einem 8-seitigen Prospekt abgedruckt werden. Die letzten acht Spieler im Herren-Einzel sind nun ermittelt: Der Australier Rose, der Spanier Gimeno (?), der Belgier Drichant, der Nielsen schlug, der Inder Krishman nach einem Sieg über Petrovic, den Exil-Jugoslawen, der Schwede Davidson, er bezwang den Engländer Becher (?), Knight, England, Sieger über Woodstock, Australien, Sivola, den ein knapper Sieg über Ayla, Chile, vergönnt war . Ich hätte großes Interesse gehabt, diese Meisterschaften zu verfolgen, gegenwärtig zu sein, wie ein Favorit nach dem anderen fiel, aber ich bin ein armer Proletarier und mir scheint, der weiße Sport bleibt wohl nur dem wohlsituierten Mittelstand vorbehalten (dabei hatte ich eigentlich keine Ahnung von Tennis und noch weniger Interesse daran).

Freitag, 8. August: Diese idiotischen Probleme, sie hetzen mich hin und her und machen mir das Leben sauer. Der Personalausweis (erforderlich für die Fahrt zum Katholikentag nach Berlin) ist nicht in Ordnung, nun war ich zweimal im „Haus der Katholischen Jugend“ mit dem Erfolg, zweimal fortgeschickt worden zu sein. Mir ist die Lust, nach Berlin zu fahren, schon vergangen. Dieses Problem wäre wohl nicht das größte, diesem sehe ich bei der Ankunft meiner Eltern entgegen, auf die ich im Moment, ¾ 7 abends vor dem Hauptbahnhof warte. Wie soll ich ihnen Hotelzimmer beschaffen? In diesem Moment kam Vater, wir fuhren (im Fiat 500) nach Bergedorf, wo er, Mutter, Großmutter und Gerhard zwei Doppelzimmer mieteten. Ich fuhr mit dem Bus und der U-Bahn nachhause.
Von Hamburg aus hatte ich versucht, Einfluss zu nehmen auf den beabsichtigten Kauf eines Autos und zwar in Briefen wie etwa den: „Apropos Kauf - Autokauf - hoffentlich kauft Ihr keinen Kleinwagen, das würdet Ihr bestimmt bereuen, ich würde vorschlagen, falls es noch nicht zu spät ist: Fiat 1100 oder, wenn Ihr mehr Geld anlegen wollt und ökonomische Ziele habt, einen Opel-Kombi. Hier in Hamburg kann man Gebrauchtwagen bekommen soviel man will, jede Marke und Preislage. Na ja, ich hoffe Ihr habt Glück und kauft etwas Schönes.“. Und in einem Brief vom 25. 6.: „Nun zu Eurem, hoffentlich noch nicht ausgeführten Autokauf. Es ist mir nicht angebracht, daß ich mich dazu äußere, aber doch sei gesagt: Kauft keinen Wagen, der als Kleinwagen angepriesen wird, es ist zwar wie man sagt wirtschaftlicher gegenüber den anderen Wagen, entbehrt aber jeder Bequemlichkeit, die nun einmal vorhanden sein muß, wenn man sich heute ein Auto kauft, oder wollte ihr einen reinen „Wirtschaftswagen“, dem jede Ästhetik fern ist und nur eine Bank auf vier Rädern darstellt, dafür werdet Ihr doch nicht ein paar tausend Mark ausgeben. Seht Euch die Wagen an: Fiat 1100 z. B., in seiner neuesten Ausgabe ist er ein Wagen erster Klasse, oder der Opel-Rekord, der zwar teuer ist, sich aber auf Dauer durch seinen hochqualifizierten Motor (woher hatte ich denn diese "Kenntnis"?) bezahlt macht. Laßt Euch aber auf keinen Fall von Zimperlichkeiten beeinflussen wie 500er Fiat oder Goggo-Mobil. Mir kann es ja gleich sein, ich habe keinen Führerschein und auch nicht die Absicht, ihn zu machen, also ist mein Urteil neutral.“. Und schließlich in einem weiteren Brief: „Ach so Euer Auto, nun werdet man glücklich mit dem 500er, er ist in meinen Augen ausgesprochen häßlich, er ist ein Spielzeug aber kein Auto. Wie schon das letztemal gesagt, ist es mir im Grunde egal. Autos dürfen mich nur insofern interessieren, als ich von ihnen mitgenommen werde.“.

Samstag, 9. August: Nun warte ich schon Stunden vergeblich auf meinen Besuch; zwar wurde keine Zeit ausgemacht, dennoch ist ¼ nach 1 Uhr ein Zeitpunkt, an dem sie schon längst (von Bergedorf kommend) hier sein müßten. - Schon vor etlichen Tagen habe ich die Tageszeitung gewechselt. Entgegen meiner allmorgentlichen Gewohnheit, vor Arbeitsbeginn in der Caffamacherreihe die Fernausgabe der „Frankfurter Allgemeine“ zu erwerben, verlegte ich mich aus verschiedenen Gründen auf die Lektüre der vom Axel-Springer-Haus stammenden Tageszeitung „Die Welt“. - Nun, sie kamen doch, etwas später zwar als erwartet, und beschlossen, weiterzufahren in Richtung Cuxhaven. Der Abschied fiel nicht schwer.

Zum Katholikentag nach Berlin

Freitag, 15. August: ½ 5 morgens. Ich bin im Begriff nach Berlin zu fahren, zum 78. Katholikentag, der Unwille ist noch nicht ganz gewichen. Um ½ 8 abgefahren, 16 Uhr in Berlin angekommen. Abends: Pontifikalamt. Samstag, 16. August: Morgens in der Waldbühne (hier traf ich ganz zufällig Josef „Peppi“ Kindler, Liebauthaler wie ich und Mitbewohner in Krofdorf, Burgstraße 8), fürchterlicher Regen. Nachmittags Kongresshalle (auf dem Weg dorthin entstand das Foto rechts). Auf der Fahrt nach Berlin saß ich neben einem etwa 23 Jahre alten Mädchen. Sie ist Krankenschwester im St. Marien-Krankenhaus in Hamburg und zugleich tätig in einer aktiven Laienbewegung, ich glaube sie heißt Legio Mariae (das Mädchen hieß Anneliese Ullrich und wohnte in Hamburg 19, Stellingerweg 33 III).

Sonntag, 17. August: Morgens Pontifikalamt im Olympiastadion. Nachmittags mit einem Dänen (Jørgen Hansen aus Aarhus, eigenes Foto links), mir gleichaltrig, intelligent, gebildet und voller Freude über das Erlebnis, nicht einer feindlichen Wand gleichgültiger oder gehässiger Andersgläubiger gegenüberzustehen, wie er es von Dänemark gewohnt ist als einer der 25000 Katholiken Dänemarks. Um 18.30 Uhr in Berlin los.

Montag, 18. August: Heute morgen sind wir um ½ 3 auf dem Hauptbahnhof angekommen. Meine Straßenbahn fuhr noch nicht, deshalb ging ich mit dem Mädchen, das ich schon auf der Hinfahrt kennengelernt habe und das auch hierher zurück wieder neben mir saß, in den Wartesaal, und wir tranken einen Kaffee und unterhielten uns besonders über die Frage, was die sogenannten Existentialisten, die jungen Männer mit den Bärten, eigentlich seien. Ich versuchte ihr das zu erklären (was für einen Blödsinn mag ich da von mir gegeben habe?). Ich hoffe, daß sie es verstanden hat. Sie ist ein höchst intelligenter Mensch, gläubig dazu und erfüllt von einer seltsamen Kraft, die es ihr ermöglicht, in jedem Geschehnis eine „Gnade“ zu erkennen, ein Zeichen von Gott, das dem Menschen gegeben wird, um ihn zu erkennen. Als ich mit der Straßenbahn heimfuhr, schlief ich ein und fuhr fast bis zum Flughafen, aber ich ging nicht zur Arbeit sondern schlief bis 1 Uhr und ging dann in die Stadt. Ich kaufte mir eine Jacke und ein Fahrtenmesser und hob 600 Mark von der Sparkasse ab.

Dienstag, 19. August: Rummelplatz; ich streife über den „Dom“, wie die Hamburger (den Rummelplatz auf dem Heiligengeistfeld) nennen, zurückgehend noch in die Zeit, das dieser Mark, der zweimal im Jahr abläuft, von der Kirche veranstaltet wurde. Ich überlege mir, ob ich eine Tasche oder einen Rucksack kaufen soll, ich kann mich nicht entscheiden. Sicher, der Tramp zieht den Rucksack vor. Mittwoch, 20. August: Heute morgen habe ich ein Visum für Spanien beantragt, abends kaufte ich mir einen schwarzen Rucksack, nicht groß, jedoch hoffe ich alles hineinzubekommen. Herr Scheffler hat mir heute schon die Papiere gegeben und ein Zeugnis. Vorher hat er sich mit mir über das Problem der Macht der Kirche unterhalten. Trotz seiner sehr negativen Anschauung hat er immer wieder seine Achtung vor der gemeinschaftsbildenden Kraft der Kirche betont. Er zitierte Loyola: Der Zweck heiligt die Mittel. Zwar zweifelte ich die Herkunft dieses Zitats an, mußte ihm aber schließlich das Feld räumen, ich sagte ihm, daß ich dialektisch noch nicht geschult sei. Donnerstag, 21. August: Das Packen ist das Aufreibendste. Hoffentlich habe ich nicht etwas vergessen, wie ich meinen Lohn im Betrieb vergessen habe.

Vom 25. August bis 9. Oktober: Tramp-Reise von Hamburg über Belgien (Besuch der Weltausstellung in Brüssel), Frankreich und Spanien nach Marokko und über Lourdes, Toulouse und Paris zurück nach Krofdorf:Montag, 25. August: Wieder auf Fahrt. Hamburg–Leer. Dienstag, 26. August: Leer. Letzte Nacht habe ich (in der JH) nicht gut geschlafen. Gestern Abend mußte ich mir wieder abfällige Bemerkungen über das Auto-Stopen anhören. Leer–Amsterdam. Mittwoch, 27. August: Amsterdam-Brüssel. Nun habe ich Holland wieder hinter mir, über den Deich, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam, Breda und Antwerpen kam ich abends um 6 Uhr an dem Ausstellungsgelände der „Expo“ (Weltausstellung 1958 in Brüssel) an. Eigentlich hatte ich nicht vor, hier zu bleiben, aber man riet mir (eine junge Dame, ich glaube es war eine Art „Hostess“ der Expo, mit der ich in der Straßenbahn ins Gespräch gekommen war), die Ausstellung unbedingt zu besuchen, es lohne sich wirklich. Nun, ich befolge wohl diesen Rat.

Donnerstag, 28. August: Brüssel. Vergangene Nach habe ich in einem großen Raum geschlafen (in „De Kajotterscentrale KAJ, Gare du Midi, Roincavelaan 78 - 79, eine Unterkunft der Christlichen Arbeiterjugend). Morgens: Ich weiß nicht, ob es richtig von mir ist, doch auf die Weltausstellung zu gehen. Es kostet mich viel Geld und die Herumlauferei auf Ausstellungen mag ich irgendwie nicht. - Das Hauptsächliche, was ich besucht habe auf der Expo: Pavillion UdSSR, USA, Vatican, Verkehrswesen, UNO, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Belgische Kunst, USA (Farbfernsehstudio, Hi Fi-Anlage, Tschechoslowakei.
Aus einem Brief von Brüssel aus nach Hause: "Durch Holland hatte ich wunderbares Wetter und hier in Belgiens Hauptstadt ist es kaum auszuhalten vor Hitze - und den hohen Preisen. Ich erspare mir viel Geld, da ich keiner Erfrischungen bedarf, wie etwa Coca Cola oder sonst etwas. Morgens habe ich 1 Liter Milch getrunken und abends wieder, das war alles, trotz der Hitze. Aber mir verging der Appetit schon, als ich die Preise für Obst mit Holland verglich. In Holland kaufte ich mir ein Pfund Tomaten, dafür bezahlte ich 25 Pfennig, hier kostet ein Pfund 1 Mark und mehr. Pflaumen sind viermal so teuer. Oh, dieses Belgien".

Freitag, 29. August: Brüssel-Paris. Mons/Belg.: Wohl wäre ich jetzt lieber in einer Brauerei oder in einer Milchzentrale, aber ich muß in glühender Sonne stehen und es scheint, als wolle man mich einfach nicht mehr mitnehmen. Soll ich doch lieber mit dem Zug nach Spanien fahren, oder soll ich stur sein und aushalten? - Paris, abends: Nachdem ich obiges geschrieben habe, nahm mich ein junger Franzose mit einem Mädchen in seinem kleinen „Citroen“ mit - bis nach Paris vor die Herberge. Wir luden noch zwei Deutsche ein, die wie ich zunächst versuchen wollten, in der Herberge Rue Victor Massee zu schlafen. Dies hier ist eine echt französische Jugendherberge, ein bißchen verlottert, alt, überall liegen und stehen Flaschen herum, es riecht nach altem Weißbrot. Aber es ist doch irgendwie schön.

Samstag, 30. August: Paris-Blois. Wieder stehe ich an der Straße und winke. Diesmal in Richtung Orleans. - Nun stehe ich, nachdem es so gut gegangen ist, nachmittags um 4 auf der Straße nach Tours in einem Dorf. - Es ist schon ½ 6 und noch kein Auto hat mich nach Blois gebracht, wo eine JH wäre. - Nun, ein Motorrad hat mich wahrhaftig nach bis Blois mitgenommen. Doch von dort mußte ich noch 6 km zu Fuß hierher laufen. Durchgeschwitzt und naß vom einsetzenden Regen langte ich hier an, nachdem ich mich mühselig durchgefragt habe. Auf dem Weg traf ich drei Deutsche, die mit dem Motorrad und Beiwagen in Spanien waren. Einer von ihnen ist durch das Jugendlager (für junge Ostzonenflüchtlinge) in Krofdorf gegangen.

Montag, 1. September: Blois-Tours. Schon wieder stoppe ich über eine Stunde auf der Straße nach Tour bei dem Dorf Des Grouets, wo die JH ist. - Es ist zum Verrücktwerden , ich werde mich wohl doch in den Zug setzen müssen. Müde und hungrig bin ich in der JH Tours angekommen, die Mademoiselle, die mich von dem verdammten Ch . . . mitgenommen hatte, mußte 6 km vor Tours ihre Fahrt beenden, da sie von Freunden überholt wurde. So klotzte ich nach Tours und dann noch ein paar Kilometer weiter zur JH (de Grandmont). Dort traf ich nur Engländer und Amerikaner. Ich habe nichts zu essen, doch fühle ich keinen Hunger.

Dienstag, 2. September: Tours-Bordeaux. In Saintes, etwa 100 km nördlich von Bordeaux. Nach etwa 1 Stunden stoppen in Tours bekam ich einen Wagen bis hierher. Südfrankreich, heiß. Bald hatte ich einen „403“ etwa 40 km, er setzte mich nach 20 km ab, fuhr jedoch zurück und nahm mich wieder mit. In Mirabeau stand ich vielleicht ¼ Std., dann nahm mich ein Renault bis Bordeaux mit (erinnere ich mich richtig, war dessen Fahrer ein Vertreter für Schmuckwaren, der mich nicht nur zu einem Glas Wein einlud, sondern mir auch stolz seine Kollektion zeigte). In B. versuchte ich noch ½ Stunde nach Bayonne zu kommen, gab es jedoch auf und ging in die JH (Talence-Monadey). Dann fuhr ich in die Stadt, lief zur Garonne, durch verwahrloste Gassen, hatte auch noch allerlei Mühe, den Bus G nach Talance zu finden. Mittwoch, 3. 9.: Bordeaux-Biarritz (Anglet).

Donnerstag, 4. September: Biarritz (Anglet). Heute habe ich (zusammen mit den beiden Eingebuddelten rechts, eigenes Foto) den ganzen Tag am Strand von Biarritz verbracht. Gestern Abend war ich mit einer Elsässerin (Gabrielle Kraemer aus Sabern bei Straßburg, mit ihrem Bruder per Autostop unterwegs), die ich schon in Bordeaux ein bißchen kennengelernt hatte, „weg“. Gleich nachdem ich mit ihr zurückkam, saß sie neben einem Franzosen. 5. September: Biarritz-San Sebastian. Zwischen 11 und 1 bin ich mit dem Zug über die Grenze gefahren, zusammen mit einem Engländer (Anthony). Jetzt sitze ich in einem teuren Restaurant und habe einen Eierpfannkuchen verzehrt. - Im Zimmer einer spanischen Familie. Die JH war überfüllt, so mußten wir den Preis von 35 Peseten akzeptieren (1 DM = 12 Peseten). Samstag, 6. September: San Sebastian-Irun. Heute Morgen sind wir von S. Sebastian nach Irun zurückgefahren, um uns hier eine Rundreisebillet (ein sogenanntes „Billete Kilometrico“, ein Gutscheinheft mit einer bestimmten Anzahl von Kilometern, meines war, glaube ich, gut für 3000 km und kostete 673 Peseten, also etwa 56 Mark) zu kaufen. Es ist alles so umständlich. Wir (der Engländer und ich) sitzen in Kneipen herum, wo es stinkt, und trinken Coca Cola, wovon mir nicht ganz gut wird. Ich glaube, mir gefällt Spanien nicht. Das Spanien hier, Irun und S. Sebastian macht immerhin einen recht ordentlichen Eindruck. Der Bahnhof wird ausgekehrt, durch die Straßen Iruns gehen Männer mit Körben und Eisenstäben, um das herumliegende Papier einzusammeln, das sogar zwischen den Schienen im Bahnhof. - Letzte Nacht habe ich mich bis 4 Uhr mit einem Deutschen unterhalten, der mit mir und dem Engländer im selben Zimmer schlief. Aus dieser Unterhaltung: Warum passen die Spanier so gut auf ihre jungen Mädchen auf? Die Mädchen sind vielleicht anfällig für Schmeicheleien und man versucht sie zu „schützen“. - Hier sieht man Nonnen und Priester, sie gehören einfach zum Bild Spaniens. Die weißen großen Hauben der Nonnen und die schwarzen Kutten und Mäntel der Priester scheinen wie ein Symbol in der Menge zu stehen und sie zu beherrschen.


Im Expreß 3. Klasse von Irun nach Madrid: Er ist statt um 19 Uhr um 19.55 Uhr abgefahren. Es machte mich ärgerlich, sicher weil ich diesen Hang zur Unpünktlichkeit nicht verstehen kann. Ich weiß nicht, wo wir sind, verwegene Gestalten steigen in den Zug ein, hinter mir plappern die Nonnen (eigenes Foto). Was ist das für ein Katholizismus in Spanien. Man leiert Litaneien herunter, lacht dabei. Die (Rosen)-Kränze sind keine Symbole sondern Fetische. Sie werden geküßt. - Nun fahre ich schon 7 Stunden fast ununterbrochen, gerade habe ich ein wenig geschlafen. Im Waggon sind 38 Nonnen.

Sonntag, 7. September: Madrid erreicht 8.40 Uhr. In Madrid Placa del Toro. Die Arena ist noch fast leer. Ich habe mich kurz entschlossen hierher gemacht, auch auf die Gefahr hin kein Abendessen (in der Jugendherberge im Park Casa del Campo) zu bekommen. Für den Eintritt habe ich 48 Peseten bezahlt, für ein Päckchen Kaugummi 12 Peseten. Ich glaube, Spanien ist doch recht teuer. Jetzt sind drei Reklamefiguren in die Arena gekommen. Die Arena füllt sich langsam. Ich sitze auf der billigen Sonnenseite (und machte das Foto des toten Stiers und andere). Geldstand : 305 DM, 17 Pst, 600 FF.

Montag,
8. September: Die Stierkämpfer von gestern: Juan Mejias Bienvenida, Jose Maria Record, Rafael Pedrosa.

Dienstag, 9. September: Madrid. Gestern lief ich den ganzen Tag mit einem bärtigen Deutschen (angeblich ein angehender Architekt, eigenes Foto links) in der Stadt herum, aß Melonen und Weintrauben, daß ich mich nachher recht elend fühlte, bestaunte die spanischen Mädchen, die von einer wunderbaren Schönheit sind. Jetzt sah ich (auf dem Hof der JH) gerade jene Zeremonie der falangistischen Jugend, die sich hier jeden Morgen kurz vor 9 Uhr abspielt. Mittwoch, 10. September: Ich trinke Bier, esse nicht viel, fläze mich auf den Betten herum. Gestern Nachmittag stronzten wir, wieder der Bärtige und ein anderer Deutscher, durch Madrid. Wir sprachen mit zwei Männern, dessen eine Uhr wir lobten, sodaß er ganz stolz wurde. Abends gegen ½ 8 sind wir, angeregt durch einen Artikel in der Welt, die ich mir für 10 Pst. als Luftpostausgabe gekauft habe, nach Vallecas (eigenes Foto rechts), dem Arbeiterviertel von Madrid. Dort hausen die Menschen zum Teil in Verhältnissen, die man sich, hätte man sie nicht selbst gesehen, nicht vorstellen könnte.

Donnerstag, 11. September: Geldstand: 1539 Peseten, 300 Mark. Anthony, der Engländer, mit dem ich eine zeitlang zusammen war, ist gestern nach Malaga abgefahren, Zunächst wollte ich auch dorthin, man riet mir aber ab, wenn ich nach Marokko wolle. - Ich dachte, die Übelkeit, von der ich vor ein paar Tagen nach dem Genuß von Melonen befallen wurde, habe sich wieder verlaufen. Mir scheint aber, als komme sie wieder. Ich habe keinen Appetit, Bauchschmerzen und ein seltsames Übelkeitsgefühl. Ich kann nichts Festes essen ohne Ekelgefühl davor zu haben. - Madrid ab (mit dem Zug): 20.35. Ich hoffe, daß meine seltsame Übelkeit verflogen ist. Der Zug steht, es scheint, als warte er auf einen anderen. Ich habe wieder Bauchschmerzen. Dann wieder leichte Übelkeit. Wieder ist aller Appetit verschwunden., ebenso mein Unternehmungsgeist.

Freitag, 12. September: Algeciras. Nach 19 Stunden Bahnfahrt (über Aranjuez und Algazar de St. Juan) gelangte ich ans Tor nach Afrika. Hier sitze ich nun dreckig und mit einem Gefühl der Ungewißheit. - Nun fahre ich in der Straße von Gibraltar (Kosten: 200 Peseten). Wenn man aufpaßt, sieht man fliegende Fische. Zunächst dachte ich, es sei eine Bachstelze gewesen. - Tanger. Um 18.40 Uhr afrikanischer Zeit, 19.40 MEZ ging ich an Land und betrat damit zum erstenmal afrikanischen Boden.

Samstag, 13. September: Tanger. Gestern Abend streifte ich durch die engen Gassen Tangers. Hier gefällt es mir, besser als in Spanien bestimmt. Auf der Straße traf ich einen Deutschen, der sagte, ich solle noch hier bleiben. So ging ich mit in sein Hotel und sagte, ich wolle 3 Tage bleiben. - Jetzt habe ich wohl einen Blödsinn gemacht. Ich kaufte von einem Araber ein Tuch, für das er 70 Pesten haben wollt, für 50.
In einem Brief nach Hause: "Ihr könnt es glauben und auch nicht, ich bin tatsächlich in Afrika mitten unter Mohammedanern, deren Frauen z. T. noch verschleiert gehen und die statt eines Anzuges einen langen Kaftan mit Kapuze tragen. Man fällt immer auf als Deutscher, aber außer von einigen jungen Burschen, die sich durch Hotelzimmervermittlungen ein paar Peseten verdienen wollen, wird man kaum weiter beachtet. Dies ist ein erheblicher Unterschied zu Madrid etwa. Vor ein paar Tagen habe ich mir mit Zuckermelonen den Magen verdorben, unter dessen Nachwirkungen ich heute noch zu leiden habe. Bauchweh quält mich und manchmal eine seltsame Übelkeit, die etwa nur durch den Gedanken an eine Zuckermelone hervorgerufen oder gesteigert wird. Holland und Frankreich, diese gesegneten Länder, hatten mir wirklich wenigstens eine zeitlang alle Annehmlichkeiten bieten können, die man sich nur von einer Trampfahrt wünschen kann. Ich hätte in Biarritz, dieser herrlichsten aller Badestädte, die ich kenne, ein paar Wochen bleiben können, aber nein, mich zog es weiter über die Pyrenäen in ein Land der Armut und des Stumpfsinns. Was erwartete ich dort eigentlich? Billiges Obst - mit dem ich mich überessen habe, eine deutschlandfreundliche Bevölkerung - für die ich eigentlich eben nur Bedauern fühle. Nun ich habe wirklich nicht viel übrig für den Spanier, sein Stolz ist nichts anderes als Eitelkeit, eine sublimierte und doch im hohen Maße rohe Eitelkeit, die meiner Ansicht wiederum ihren Ursprung in der geistigen Beschränktheit des spanischen Volkes (was für ein Hochmut!) hat. Natürlich findet man auch Ausnahmen. Eine solche Ausnahme dachte ich gefunden zu haben, als ich mein Billet für Algecieras am Schalter (in Madrid) kaufen wollte. Ein junger Mann hinter mir war mir behilflich, dem Mann hinter dem Schalter klar zu machen, was ich wolle. Er sprach Englisch, ich bedankte mich und freute mich, endlich einmal einen Spanier getroffen zu haben, der gleich beim ersten Wort versteht, worum es mir geht. Nichts dergleichen, als ich Donnerstagabend den Waggon meines Zuges suchte, kam ein in Weiß gekleideter Mann auf mich zu und sprach mich auf Englisch an. Mein Erstaunen schien ihn zunächst etwas betroffen zu haben - aber nach einem Moment stellte sich heraus, daß es jener freundliche junge Mann vom Tag zuvor war. Wir kamen in ein angeregtes Gespräch, dabei erfuhr ich, daß es - ein marokkanischer Lehrer war, der seinen Urlaub in Madrid verbrachte hatte und nun mit dem gleichen Zug wie ich in Richtung Marokko fuhr. Es gibt aber wohl in Europa kein so armes und dennoch zufriedenes Volk wie das spanische. Der Lohn eines Arbeiters ist so unwahrscheinlich gering, daß ich mich fragte, wie es ihm möglich ist, seine oft große Familie bei den wiederum verhältnismäßig hohen Preisen über die Runden zu bekommen. Ich traf viele Deutsche, die (in Marokko) bis 300 km hinuntergetrampt sind, dazu bin ich aber wohl zu faul, aber das werde ich noch sehen. Mir scheint, Tanger ist schon eine typische Araberstadt. (Das Wasser läuft natürlich nicht, so muß ich mit samt dem Schmutz, der sich nach einer 19stündigen Bahnfahrt auf mir gesammelt hat, zu Bett gehen). Ich schlafe in einem Hotel, dafür zahle ich 25 Peseten, das sind etwa 2,10 Mark. Ein kleines Zimmer mit einem sauberen Bett und 'fließendem' Wasser. Sogar ein Spiegel ist vorhanden, ein Sessel und ein Nachtisch, auf dem ich diesen Brief schreibe. Am Boden stehen schon zwei Flaschen Bier. Es ist ungeheuer, welchen Bier- und Cola-Konsum ich hier habe. Zum Brot trinke ich Bier, es kostet etwa 30 Pfennig, Coca- oder Pepsi-Cola trinke ich in den Geschäften, eiskalt und durststillend, ich bin geradezu schon süchtig geworden".

Sonntag, 14. September: Tanger. Ich habe ein schlechtes Zimmer, dafür muß ich 25 Peseten bezahlen. Ich kaufe eine Flasche Milch, und die Milch ist sauer. Ich kaufe ein Tuch und zahle entscheiden zuviel dafür. - Heute Vormittag hatte ich das erstemal Angst, ich könne mein Geld abgenommen bekommen. Ich wagte mich nicht mehr weiter die Küste nach Westen entlang zu gehen, sondern kehrte zurück zur Stadt. Obwohl diese Angst unbegründet ist, so sind doch gewisse Vorsichtsmaßnahmen am Platze, unten am Strand scheint es angebracht, ein Messer bei sich zu tragen. Auf diesem kleinen Spaziergang konnte ich sehen, wie zwei Fischerboote ihre Beute, Fische etwas größer als Heringe, an den Mann zu bringen versuchten. Aller Herumstehenden machten einen verkommenen Eindruck, und dennoch waren sie voller Leben und Lustigkeit. - Ich liege den ganzen Tag herum, schlafe und grüble, darüber nach, ob ich nach Rabat oder Fez fahren soll. - Den Abend verbrachte ich in einer Kneipe im ersten Stock über einer spanischen Bar. In der Kneipe lagen ein paar junge Marokkaner und rauchten Haschisch, dazwischen tranken sie Pfefferminztee aus frischem Kraut, ein herrliches Getränk. Ich fühlte mich sehr wohl dort. Wir, zwei Hamburger Jungs, die ich schon in Algeciras getroffen hatte, unterhielten uns mit einem Marokkaner, der sich selbst Englisch beigebracht hat. Wir wurden behandelt wie ihresgleichen. Aber wie sehen diese Menschen aus, alt und abgetakelt, die Spur des Rauschgiftes, ein fad-grünes trockenes Kraut, das in einer langen Holzpfeife mit kleinem Kopf geraucht wird, hat sich schon in ihre Züge gegraben. Man schätzt sie viel älter ein, als sie in Wirklichkeit sind. - In einem Basar kaufte ich ein Paar Lederpantoffeln für 100 Peseten, bei einem fliegenden Händler zwei Lederbrieftaschen für zusammen 80 Peseten. Die zwei Deutschen verstanden es zu handeln. Montag, 15. September: Tanger. Heute habe ich entgegen fast allen Tagen, die ich schon im Süden verbracht habe, keinen Tropfen getrunken. Mein Durst ist erheblich, aber ich muß mich beherrschen lernen. - Ich sprach mit einem jungen arabischen Arbeiter. Er redete voll Haß von den Franzosen und den Juden. Es machte mich traurig, diese gehässigen Worte hören zu müssen. Ich kann vor Hautjucken nicht einschlafen (vermutlich eine Folge von Flohstichen).

Dienstag, 16. September: Tanger-Tetuan. Hier stehe ich in Tanger auf der Straße nach Tetuan, durstig, ausgedorrt in der sengenden Sonne Afrikas. Es kommen kaum Autos.
Tetuan: Mit dem amerikanischen Konsul von Tanger (das war nur eine Vermutung) kam ich um ¼ nach 10 in Tetuan an. Jetzt befinde ich mich auf der Höhe eines Bergrückens bei einer Ruine (eigens Foto rechts; eigene Zeichnung unten links). Ich sah sie von der Stadt aus. Mit einiger Anstrengung, die Jacke über den Kopf zugeknöpft, kletterte ich den steilen, aus zerrissenem Stein bestehenden Berg hinauf. Auf der Hälfte des Weges glaubte ich aufgeben zu müssen, aber ich schaffte es mit Herzklopfen und heißem Kopf. Ein Liter Wasser und ein Brot würden mir jetzt gut tun, aber hier scheint es keinen Tropfen dieses hier so geschätzten Nasses zu geben. Es ist genau 12 Uhr. Unter mir liegt Tetuan. Von einem schmalen Tal breitet es sich gegen Osten in eine breite Ebene aus. Links und rechts die afrikanischen Berge. Hier ist man schon weit von Europa entfernt, von den schattigen Wäldern Deutschlands. Zwar weht ein angenehmer Wind, trocken und dürr streichelt er die grünen Büschel. Die braunen Hügel Afrikas. Die Ruine gleicht einer zerfallenen kleinen Burg, bestimmt war sie es auch einmal so etwas ähnliches. Von hier kann ich nur das westliche Tetuan sehen, einen schmalen Fluß und gegen Süden wieder die in schmutziges Grau gekleideten Berge. Der rechts von mir aufsteigende Bergrücken ist gerillt, als habe ihn Menschenhand bearbeitet. Wie ein bebauter großer Acker liegt er unter mir. Es ist mir ein Rätsel, wie diese gleichmäßigen Rillen in den Berg gegraben wurden. - Ich wundere mich, wie die Menschen in einem solch unbeschreiblichen Schmutz und Gestank leben können. Die modernen Viertel sind wunderbar sauber und darum dieser Unterschied ein paar Schritte weiter. Man geht durch ein Tor und befindet sich in all dem Unrat, dem Abfall. Straßenkehrer versuchen dem Schmutz Herr zu werden, man wirft die Abfälle einfach wieder in die Gasse. - Es kann unmöglich die Armut sein, daß sich die Menschen nur oft in Fetzen hüllen (wie komme ich zu solch einem Urteil?). Wie schön sind die Arabermäntel, aber man achtet nicht darauf, wenn Löcher drin sind. Schlampiger noch als die Männer sind die Frauen. Man sollte es nicht glauben, wie abgerissen, wie niedrig sie leben. Aber es ist schwer hier Geld zu verdienen. Sie schreiben das Jahr 1378. Gäbe es hier keine Autos und Stahlbetonbauten, könnte man diese Zahl als das afrikanische Mittelalter gelten lassen. Ich könnte mir vorstellen, daß es bei uns im Jahre 1378 nicht sauberer war und die Menschen ebenso heruntergekommen. - Jetzt bin ich wieder in der Stadt, ich habe mich genau 2 Stunden bei der Ruine aufgehalten. Ich sitze unter einer Palme auf einer Steinbank auf dem Hauptplatz der Neustadt. Das Bier müßte bei uns so billig sein wie hier. Ich glaube, in meinem Herzen ist doch ein wenig das Heimweh eingezogen.

Mittwoch, 17. September: Tetuan-Ceuta-Algeciras. Am Stadtausgang von Tetuan. Ich hätte mit dem Bus fahren können, nein, ich muß mich wieder an die Straße stellen und winken. Keine Autos. Es ist zum Kotzen. - Jetzt sitze ich an der marokkanischen Grenzstation nach Ceuta. Hier scheinen ziemlich seltsame Grenzverhältnisse zu herrschen. Spanische Soldaten in Tetuan und hier eine Grenze. Schon wieder eine Kontrolle. - Um 16.20 Uhr MEZ habe ich Afrika wieder per Schiff verlassen und erreichte Europa um 17.55 Uhr MEZ. Algeciras: Ich habe einen großen Wein verlangt, um dazu etwas Kuchen zu essen, und man hat mir ein winziges Gläschen, dazu ein paar Krabben aufgetragen - die Blödheit der Spanier. - Diesmal habe ich den Spaniern Unrecht getan. Der Wein und die Krabben kosteten 3 Peseten. Und die Krabben schmeckten fein.

8. September: Algeciras. Man wartet (an einem Schalter) und weiß nicht einmal, ob dieses Warten Erfolg hat. Die Art, die Menschen aufzuziehen, macht den Spanier in meinen Augen noch ekelhafter als er ohnehin schon ist. Natürlich gibt es auch Menschen, die sehr angenehm sind, wie etwa das Mädchen in der Markthalle, das Kakao aus Ziegenmilch verkaufte und irgendwie bemerkt haben muß, daß ich in Fett gebackene Kringel essen wollte. Sie schickte mich weg, ohne sonst etwas zu sagen. Zwar bekam ich keine Kringel, dafür kaufte ich mir fünf Stückchen Kuchen und kehrte zurück, um mir zwei Gläser Ziegenmilchkakao zu kaufen.

Vorhin traf ich ein deutschsprechendes kleines Mädchen. Ich ging über den Marktplatz, da sagte jenes Mädchen, das mir schon kurz vorher durch ihr hellblondes Haar aufgefallen ist, „Auf Wiedersehen“. So kam ich mit ihr ins Gespräch. Niemals vorher habe ich so ein sympathisches, bedauernswertes kleines Mädchen kennengelernt. Nach ihrem Erzählen ist ihr Vater Spanier und ihre Mutter Deutsche (erinnere ich mich richtig angeblich aus Kassel), sie ist in der Nähe von Hamburg geboren und kam vor 2 Jahren nach Spanien. Ihr Vater liegt krank im Spital, und da ihre Mutter jetzt Spanierin ist, kann sie sich an keine deutsche Stelle wenden. Sie (das Mädchen) trug einen Eimer mit Futter (Marktabfälle) für ein kleines Schwein, das angeblich eine kranke Frau hat, auf dem Kopf. Sie wäre gern in Deutschland, sagte sie. - Um 16.45 Uhr losgefahren. Jetzt sitze ich wieder im Zug nach Madrid, blödsinnigerweise mußte ich 2. Klasse nehmen, der Spaß kostet mich 11 Mark extra. Ich saß anfangs in einem Abteil zusammen mit zwei Mädchen. Dann kam eine Frau und bat mich, mit ihr den Platz zu wechseln, so sitze ich nun am Fenster eines anderen Abteils (ich habe diesen Vorfall seinerzeit als Versuch gedeutet, mich von den Mädchen zu entfernen; vermutlich war das Anliegen der Frau viel harmloser). - Das einzig schöne Spaniens sind seine Berge, seine Schluchten und steilen Bergrücken (warum nur diese Ressentiments gegen das Land und seine Menschen? Ich weiß es nicht mehr). Die teilweise ausgetrockneten Flüsse und Wasserläufe sind angefüllt mit von den Höhen heruntergestürzten Felsbrocken. Es dämmert, keine Wolken sind zu sehen, nur der blaue Himmel mit dem rötliche Rand. Wir fahren entlang eines Tals.

Samstag, 20. September: Madrid. Gestern um 10.45 Uhr erreichte ich Madrid (rechts eigenes Foto, nachdem ich die Kinder eines Spielplatzes gebeten hatte, das Denkmal zu erklettern). In der JH traf ich wieder fast nur Deutsche - eine kleine deutsche Kolonie. Abends saßen wir bis spät in die Nacht unter der Tür zum Schlafraum und diskutierten über alle möglichen Probleme, besonders aber, wie immer wenn ein paar Jungs zusammensitzen, über die Schwulen, über die verschiedenen Arten, wir nannten Namen, und einige berichteten von eigenen Erlebnissen (ein unerschöpfliches Thema damals unter Trampern). Später sprachen wir über den spanischen Faschismus. Anfangs jedoch, den Grundstein sozusagen, bildete das spanische Volk, seine geistigen Fähigkeiten, seine Lebensführung und seine Einstellung zum Leben das Thema unserer Unterhaltung. So wurde der Spanier allgemein als geistig niedrigstehend erachtet (welch eine Anmaßung junger Menschen, die von Spanien und ihren Menschen eigentlich nichts Genaues wussten). Besonders wurde von dem Elend der breiten Schicht des Volkes gesprochen, andererseits muß man eine Schicht bemerken, die auf Kosten dieses Volkes in Geld schwimmt. Auf diese Weise fanden wir viel Gesprächsstoff, und doch, die tiefe Wurzel konnten wir nicht erfassen, es wurde stets an etwas vorbeigeredet, wie etwa über die Einstellung der jungen Spanierin zur „Liebe“, d. h. zum Schlafen mit einem Mann, ohne mit diesem verheiratet zu sein. Ich weiß darüber nichts. Irgendwie interessiert es mich auch nicht. - Heute ließ ich mir nach genau 2 Monaten wieder die Haare schneiden. Ich finde mich schauderhaft in kurzen Haaren, aber es ist praktischer. - 22 Uhr: Ein Deutscher hat mich mit seiner DKW von der JH zum Bahnhof gefahren. Mir war wirklich ein bißchen wehmütig zumute, als ich die Madrider JH verlassen mußte (ich hätte sie eigentlich noch gar nicht verlassen müssen), ich habe diesen Ort wie einen Hafen empfunden, im Herzen Spaniens, wo sich alle Tramps treffen. Solch eine Gesellschaft waren wir, eine Bruderschaft, 2000 km von der Heimat entfernt bildeten wir eine Bastion, ein Stück Heimat. Jetzt, da ich Spanien zu lieben beginne, muß ich es verlassen. Losgefahren um 22.45 Uhr. Sonntag, 21, September: Es ist 10 vor 8 Uhr morgens. Ich glaube nicht, daß ich vergangene Nacht viel geschlafen habe. Ich muß mir meine Augen erkältet haben, sie schmerzen, und gestern morgen war das rechte Oberlid, wie ich das schon früher beobachten konnte, angeschwollen, schmerzte aber nur leicht, wenn ich darauf drückte. San Sebastian 11.30 Uhr - Irun 12.00 Uhr. Hendaye: Ich stehe schon wieder 1 Stunde. Kein Wagen hält. Ich bin ausgepumpt.

Montag, 22. September: Bayonne (ich weiß nicht mehr, wie ich von Hendaye nach Bayonne in die JH kam). Ich halte es bald nicht mehr aus vor Kopfschmerzen. Es ist wohl eine schreckliche Erkältung, die ich mir während der Zugfahrt zugezogen habe. Die Schmerzen werden immer größer, so daß ich schon eine ganze Zeit nach jeder körperlichen Bewegung zu jammern beginne.

Dienstag, 23. September: Anglet/Biarritz. Hierher kam ich auf Schusters Rappen von Bayonne, da meine Kopfschmerzen so stark wurden, daß ich es für unmöglich hielt, weiterzutrampen. Noch den ganzen Tag schmerzte mich der Kopf, ich fror dabei, brachte es aber fertig, etwas zu essen, so daß ich mich doch schließlich etwas wohler zu fühlen begann. Als ich heute Morgen erwachte, spürte ich eine große Erleichterung, die Schmerzen machen sich nur noch beim Schütteln des Kopfes bemerkbar, der Schmerz bei Drehen der Augen hat aber noch kaum nachgelassen. Gestern Abend zog ich mit 6 Deutschen, bewaffnet mit einer Gitarre, einer Balalaika und einer Ukele, durch die Straße von Biarritz (wir sangen in einigen Lokalen Wanderlieder, wofür wir mit Getränken „entlohnt“ wurden). 1 Socken verloren und den Füller. Dafür zwei Kugelschreiber, einen blauen und einen roten, gekauft. Ich ärgere mich trotzdem, ich hasse nämlich Kugelschreiber, sie lassen meine schlechte Schrift noch schlechter erscheinen.
Aus einem Brief nach Hause: "Ich weiß nicht, was größer war bei Euch, Schrecken oder Erstaunen, als Ihr meinen Brief oder meine Karte aus Tanger und Tetuan in Marokko erhieltet. Nun, es wäre weder das eine noch das andere angebracht gewesen - tatsächlich ist dieses Land in Nordafrika nicht so weit entfernt wie man allgemein annimmt. Und auch dort trifft man Deutsche, per Anhalter oder per Motorroller, aber wirklich nur Deutsche. In Spanien hört man noch Engländer und Österreicher, das hört sich aber auf, sobald man die Straße nach Gibraltar überquert hat. Mancher, wie ich, beläßt es dabei, lediglich ein paar Kilometer ins Land hineinzutrampen, andere wieder geben sich damit keineswegs zufrieden, sie müssen weiter in den Süden, hinunter nach Marrakesch, Casablanca, Fez oder Meknes. Aber dazu hatte ich keine Lust; zwar bin ich allerlei Zeit gewohnt auf Autos zu warten, dort scheinen aber alle Rekorde gebrochen zu werden. Aber dennoch, ich sah Afrika, sah das Leben der Araber, all das Neue, uns Europäern nur durch Bilder und Büchern Bekannte. Ich habe dieses Land sehr gerne, nicht allein der Menschen wegen, das vielleicht sogar als letzter Grund, aber es gibt selten eine so schöne Landschaft, jedenfalls sah ich wohl niemals eine schönere ihrer Art. Doch mir graute schon wieder vor Spanien. Nun sitze ich wieder in Biarritz. In der Karte von hier schrieb ich, daß ich elende Kopfschmerzen habe. Ich kann mir das nicht anders erklären, als daß ich sie im Zug bekommen habe. Um wach zu bleiben, ich fuhr nachts, stellte ich mich oft lange ans Fenster, so scheint es, habe ich mich erkältet. Aber ich hoffe, es flaut langsam ab. Ich ärgere mich nur, daß ich nicht baden gehen kann".

Mittwoch, 24. September: Anglet/Biarritz. Am Flughafen von Biarritz. Es ist seltsam, hier war mein Vater als Soldat vor 15 Jahren (das Foto links von etwa 1942 zeigt Josef Träger bei seiner Arbeit: Instandsetzung von Militärflugzeugen; diese Kenntnis hat mich überhaupt veranlasst, über Biarritz nach Spanien zu fahren). Jetzt liegt alles friedlich unter der Sonne Südfrankreichs. Donnerstag, 25. September: Anglet/Biarritz. Gerade komme ich von einem baskischen Ballspiel, Pelote Basque (Cesta Punta). Es spielen 4 oder 2 Spieler gemeinsam.

Freitag, 26. September: Biarritz-Lourdes. Mit drei Wagen kam ich nachmittags um ½ 2 hier an. Jetzt stehe ich vor der Grotte unter der Kirche der Bernadette. Ein spanischer Priester spricht, etwas weiter entfernt singen Frauen Lieder. Vor mir, auf dem Platz vor der Grotte, stehen die Wagen der Kranken. Mir ist noch nicht ganz klar, was mit ihnen gemacht wird. Die Menschen ziehen hin und her. - Ich habe mir eine Wiese gesucht, um etwas Brot, Käse und Schokolade zu essen, das ich mir in der Stadt gekauft habe. nun erhebt sich langsam die Frage, wo ich nachts mein Bett aufschlagen soll. - Ich habe das Camp gefunden, das mir der Fahrer, mit dem ich bis hinter Pau gefahren bin, aufgeschrieben hat. Von hier aus kann man fast ganz Lourdes übersehen. Samstag, 27. September: Lourdes - Die Dame, die mich gestern vom Büro dieses Camps hierher geschickt hat (Cité-Secours Lourdes) oder besser: sie schickte mich diesen Weg, meinte aber, ich wollte in ein Jugendlager gehen, wollte noch gestern Abend Schwierigkeiten wegen meiner Aufnahme in dieser Herberge (Anmeldekarte links) machen, da sie wahrscheinlich glaubte, ich hätte ihren Vorschlag umgangen und nur diese völlig kostenlose Herberge ausgesucht, als Tourist natürlich. Unter anderem mußte ich dann noch angeben, aus welcher Stadt ich gerade kam - leider, und dazu war es noch falsch, schrieb ich Biarritz auf. Daran blieb sie haften, und sie wollte nicht zulassen, einen Tramp, der wer weiß wo herumgefahren ist und dann noch aus Biarritz kommt, in diesen Herbergskomplex aufzunehmen., der, wie mir immer wieder versichert wurde, nur den ärmsten der armen Pilger vorbehalten ist. Mir scheint jedoch, diese Vorschrift wird bestimmt nicht beachtet - und zuletzt: war es etwa meine Schuld, hier hereingetrudelt zu sein? Woher sollte ich wissen, ob ich richtig oder falsch bin, da man mir sagte, ich könne hier bleiben. - Schon am frühen Nachmittag habe ich versucht, als Helfer (der Kranken) unterzukommen, man wies mich an, bis ½ 6 zu warten, aber auch dann blieb mein Anerbieten erfolglos, der Chef der deutschen Pilger ist in die Pyrenäen gefahren. So muß ich nochmals heute Abend fragen, bleibt auch das fruchtlos, gebe ich es auf. - Nun bitte, wenn es mit derartigen Schwierigkeiten verbunden ist und mir auch jetzt nicht helfen konnte. Ich werde mich nicht länger aufdrängen. Sonntag, 28. September: Lourdes. Meine Zweifel und Anstrengung gegenüber dem, dessen Zeuge ich hier bin, die Pilgerfahrten vieler Tausender an einen Ort, dem durch die Erscheinung der Bernadette große Gnade zugesagt wird. Aber Gnade ist für mich ein Begriff, den ich nicht ganz verstehe. Was ist Gnade? Wenn einem Kind eine Weiße Frau erscheint, diesem aufträgt, in der Erde zu graben, um eine Quelle freizulegen? Ich scheue mich davor, meine Zweifel laut auszusprechen. So werde ich hin- und hergeworfen im Ringen um Wahrheit und Glauben. Montag, 29. September: Lourdes-Toulouse. Nun lifte ich am Stadtausgang von Lourdes schon 1 ½ Std.. Tramperpech. - Nun stehe ich in Tarbes auf der Straße nach Toulouse. Kaum Autos. - Jetzt wird es fatal, 4 Uhr und noch kein Lift (trotzdem erreichte ich Toulouse noch an diesem Tag. Dort erlebte ich zum erstenmal, wie Franzosen auf der Straße tanzen, erinnere ich mich richtig anlässlich einer Straßenkirmes und eines Wahlausgangs zugunsten von de Gaulle. Zusammen mit einem asthmatischen deutschen JH-Genossen gewann ich eine Flasche Sekt, die wir gleich konsumierten).

Dienstag, 30. September: Toulouse-Brive. 50 km nördlich von Toulouse. Ich glaube, hier sitze ich fest. Regen, wenig Autos. Nun werde ich wohl kein Auto mehr bekommen, es ist schon 10 vor 6. - Nun bin ich doch tatsächlich noch in Brive gelandet. Ein junges Paar nahm mich in seinem kleinen Citroen mit und brachte mich bis zur Jugendherberge. Mittwoch, 1. Oktober: Jetzt fahre ich los in Richtung Clermont-Ferrant. Am Stadtrand von Brive. Schon wieder stehe ich über eine Stunde. Es ist kalt. - Zwei Stunden und noch kein Schwein hat gehalten. - Ich habe mich auf die Straße nach Limoges gestellt und gleich einen Wagen bekommen. Nun stehe ich wieder in Limoges, um nach Bourges zu kommen. - Mir ist ein Irrtum aufgefallen. Ich will nach Bourges und gerade sehe ich, daß ich über eine Verbindungsstraße muß. Nun stehe ich schon wieder Stunden hier. Und ich befinde mich noch im Süden. - Jetzt ist die Sache hoffnungslos. Hätte ich genug französisches Geld, würde ich (mit dem Zug) zur französischen Grenze fahren. - Ein Autofahrer hat mich mitgenommen und der setzte mich in einem Kaff ab, wo ich nicht mehr weiterkomme, wo auch bestimmt kein Bahnhof ist. - Ich werde marschieren. Donnerstag, 2. Oktober: Das war eine schreckliche Nacht. Ich bin vollkommen am Hund. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst, nur das Bedürfnis zu schlafen. Ich bin viele Kilometer marschiert und bis zur nächsten Stadt wären es noch über 20 (km), also lifte ich wieder.

Samstag, 4. Oktober: Paris. Am Donnerstagmorgen, kurz nach obiger Eintragung, nahm mich ein Renault bis Paris mit. Hier wurde ich zunächst von der JH in der Rue Victor Massee in eine andere geschickt und von dort hierher nach Boulogne (Maison des Jeunes et de la Culture, 37, Rue Anna-Jaquin, Boulogne-Bilancourt) eine (so sagte man) kommunistische Jugendherberge am Stadtrand. Gestern besuchte ich mit einem Kieler und einem Berliner die Stadt. St. Germain-de-Pres (den "Berliner" S. traf ich zufällig 25 Jahre nach unserer Begegnung als Kollege in einem Pharmaunternehmen wieder). „Wenn die Kunst aus dem Stadium des Angreifenden in das Stadium des Geduldeten übergeht, ist sie keine Kunst mehr“ (diese "Weisheit" erfuhr ich von eben jenem "Berliner", der mir außerdem die Haare schnitt). Sonntag, 5. Oktober: Paris. Nachmittags war ich im Louvre. Danach spazierte ich zur Notre-Dame, von dort zum Platz der Bastille. Hier begann ein Markt, der am Flohmarkt endete. Jetzt sitze ich in der Metrostation St. Ambroise. Montag, 6. Oktober: Paris. Am Samstag besuchte ich (mit S., von dem die Anregung kam) die Pariser Katakomben, wo die Gebeine von etwa 300 000 Parisern aufgestapelt sind (dabei wollte S., der vorhatte, Medizin zu studieren, einen Schädel, versteckt unter seinem „Duffel-Coat“, mitnehmen, gab dieses Vorhaben aber schließlich auf). - Der Berliner und ich gehen in Paris spazieren, um zu stehlen. Er will für sich Schallplatten abstauben und für mich, ich bot ihm 1/3 des aufgeschriebenen Preises, antiquarische Bücher. Ich fühle mich schmutzig, wenn ich an dieses Vorhaben denke. Wegen mir kann er für sich stehlen. Gott-sei-Dank, es ist nicht dazugekommen, er hat es sich überlegt, ist zur Überzeugung gekommen, daß das Risiko in keinem Verhältnis zum Wert der Beute steht. Meine Überlegung ist natürlich anders, aber ich bin froh.

Dienstag, 7. Oktober: Paris-Saarbrücken. Chalon s. M. Über Reims bin ich heute von Paris hierhergekommen. Es ist ½ 2. Mittwoch, 8. Oktober: Gestern bin ich mit einem Deutschen, den wir aufgelesen haben, noch bis Saarbrücken gekommen. Heute Morgen bekam ich nach zwei wenig ergiebigen Lifts meinen ersten großen Citroen bis hierher nach Frankfurt (wieder einen Füller gekauft). Donnerstag, 10. Oktober: Gestern Mittag kam ich in Krofdorf an. Mit dem Zug bin ich von Frankfurt nach Gießen und von dort hierher gefahren. (Ende der Aufzeichnungen über meine Reise nach Afrika, rechts Auszug aus meinem Jugenherbergsausweis).