Sonntag, 28. Dezember 2008

Über Kolumbien in die USA 1975

Es sollte meine dritte Reise in die USA werden, mit Endziel auch diesmal wieder Pennsylvanien und dort Todd Pearson, mit dem zusammen ich 1972 von seinem Heimatort Huntington Valley aus den Kontinent durchquert und an dessen Hochzeit in Sunderland, Mass., ich zwei Jahre später teilgenommen hatte. Jetzt lebte er, als Deutschlehrer an der privaten Haverford School, mit seiner Ehefrau Linda in King of Prussia westlich von Philadelphia. Dorthin freilich wollte ich nicht auf direktem Wege, sondern "Zwischenstops" einlegen. Dass einer davon Kolumbien sein würde, war vor Reiseantritt allerdings nicht vorgesehen. Zunächst einmal wollte ich auf die Bahamas, mit der "Loftleidir", dem einzigen Billigflieger der damaligen Zeit, den zu benutzen man aber nach Luxemburg fahren musste. Das geplante Unternehmen geschah diesmal nicht aus reiner Reiselust, ich suchte auch Distanz zu einem damals etwas aus den Fugen geratenen "Privatleben".

Montag, 21. April: Mit Bahn nach Luxemburg. 13.30 Abflug - Zwischenlandung Azoren. 18.40 Ortszeit Ankunft Nassau (Bahamas). Hotel Pilit. - Von den „Bahamas“ habe ich noch nicht viel gesehen. Im Dunkeln wurden wir in einem vollgestopften VW-Bus vom Flughafen hierher gekarrt. Schönes Zimmer zur Straße und zum Wasser, Dusche, Bad, Handtücher, alles sehr sauber. Während des Fluges (und seit der Bahnfahrt ab Koblenz) hatte ich Gesellschaft eines 40jähreigen Persers aus Linz, ein gutaussehender Mann, Vater von 4 Kindern. Vor der Abfahrt in Wetzlar noch ein Telefonat mit I., Gertrud hatte mich zum Bahnhof gebracht.

Dienstag, 22. April: Nassau. Mit fast 3000 Mark in der Tasche weiß ich dennoch nichts rechtes mit dem Geld und mit mir anzufangen. Einen morgendlichen kurzen Rundgang hinter mir, viel Unrat, miserable Wohnverhältnisse gesehen. „Amerikanisches Frühstück“. Ich lasse jetzt erst mal die neuen Eindrücke auf mich wirken. Das „schwarze Element“ beherrscht das Straßenbild. Wer beherrscht das „Geschäftsleben“? – Eine „Sightseeing“-Tour hinter mir. Ich habe mich entschieden, morgen nach Miami zu fliegen und von dort aus nach Kingston. Warum gerade Kingston? Ja warum. Vielleicht will ich sagen können, auf Jamaika gewesen zu sein. Ich könnte ebensogut nach Mexiko City fliegen. Und vielleicht mache ich das sogar. Eigentlich würde ich mich viel wohler fühlen, wenn ich diese Reise in Begleitung eines anderen Menschen machen würde. Alleinsein fällt mir schwerer als früher. Diese Reise ist überschattet von dieser Beziehung (gemeint ist die zu der oben erwähnte Person "I."). Es dürfte jetzt gegen 6 Uhr abends sein. Gerade habe ich den zweiten Stadtgang hinter mir, streunte zwischen riesigen Fahrgastschiffen herum, aß zwei Portionen Eis, gab einem kleinen Jungen einen Dime (10 Cent), nachdem er mir „a new song“ vorsingen wollte, wenn ich ihm Geld gäbe. Ein mir noch unbekanntes Angebot, das ich allerdings nicht annahm. Es ist sehr windig, aber wieder trocken nach einem prächtigen Regenguß am frühen Nachmittag. Ich bin hierher gefahren, dachte ursprünglich an Fahrten zu verschiedenen Inseln. Soll mich wirklich bedrücken, daß ich diese Idee aufgegeben habe? Wenn ich durch die Straßen laufe, in die Geschäfte schaue, interessiert mich doch nichts, allenfalls eine kalte Büchse Bier. Ich suche, suchte nie Erlebnisse sondern Eindrücke. Dabeisein, aber nicht mitmachen. Da wird getaucht, gejagt, gebadet, gesegelt, was wirklich zählt ist die befriedigende Beziehung zu einem Menschen, ist die Liebe. Das konnte ich vor ein paar Monaten noch nicht so entschieden sagen. Damit zusammen hängt auch meine Bereitschaft zusammen, mich jetzt wirklich ernsthaft einer Arbeit zuzuwenden, nicht, um mich „zu verwirklichen“, sondern um mich zu beruhigen, mir Muße zu gönnen, mag das auch widersinnig klingen. Dies schreibend sitze ich auf dem Balkon meines Zimmers, der Blick zum Yacht-Hafen unterbrochen durch eine Kokospalme; Autos, Boote, schwarze und weiße Leute. In mir ist eine angenehme Ruhe. – Aber auch Hunger und Durst. Es ist dunkel geworden, schnell geht das hier. Mit meinen Gedanken bin ich bei meinen Damen.

Mittwoch, 23. April: Pilot Hotel Nassau. Der Aufenthalt in einem solchen Hotel: Man kann es als Inbegriff des angenehmen Lebens empfinden, Muße, Fütterung, ruhige Zimmer, ein angenehmes Klima. Es ist eine „Anzeigenwelt“ und daher so wie die Anzeige selbst verfälschte Wirklichkeit, weil sie demjenigen, der an ihr teil hat, ein ganz bestimmtes Verhalten aufzwingt, das mit Passivität allein nicht zu charakterisieren ist. Hier verwirklicht der etwas besser bezahlte Angestellte aus New York oder Chikago oder auch aus Deutschland seinen Traum vom Leben unter Palmen. Eine Woche oder vierzehn Tage, danach bleibt ihm nichts als die leere Tasche und die Prahlerei. Natürlich habe ich kein Recht, so zu lästern, jeder soll sich die ihm gemäße Freude gönnen. Ich sitze halt gerade am kleinen Schwimmbecken des Hotels, an dem sich ein paar bleiche Gestalten ihre Renommierbräune erliegen. Ich war wieder „Downtown“, ließ mir das Flugticket fertigmachen und bestellte die Fahrt zum Flughafen. Außerdem spazierte ich zum Wasserturm, ließ mich per Aufzug hochtransportieren, um Dias zu machen. Dann war ich noch einmal am Hafen.
Nassau ab 15.30 – Miami Flughafen 18.30. - Mich reitet der Teufel oder die Abenteuerlust hat mich gepackt. Wenn ich es mir in den nächsten 10 Stunden nicht anders überlege, fliege ich morgen nach Bogota. Was ich dort suche, ist mir noch rätselhaft, aber reizvoll scheint mir eine Reise nach Südamerika schon. Zunächst einmal ist die ganze Angelegenheit eine Frage der Geduld und der Bereitschaft, allein für den Flug 200 Dollar zu bezahlen., doch daran sollte es nicht scheitern. Ich schleiche durch die neon-erleuchtete Halle des Flughafens, streife durch die Läden, mustere die Menschen. Es wäre angenehmer, die Zeit zu verschlafen, das hätte allerdings 24 Dollar gekostet. Jetzt ist es ½ 8 (abends). - Ich bin so müde, als hätte ich tagelang nicht geschlafen. Gerade sprach ich mit einem Belgier, der heute aus Kolumbien kam. Er gab mir ein paar Tips. Und überhaupt hat es mir gutgetan, so spät abends mit einem, dem es ähnlich geht wie mir, keine Schlafstätte hat. ½ 12. – Bisher war ich eigentlich nur müde, jetzt aber kommt die Schläfrigkeit. Ich kann an nichts anderes denken, als daran, daß es bald Morgen wird. Die Kälte der Klimaanlage tut noch das Ihrige zu meinem Unbehagen hinzu. Aber der Schlafmangel ist doch das Unangenehmste.

Donnerstag, 24. April: Es ist jetzt gleich ½ 2. Das Warten wird allmählich zur Qual . - Knapp nach ½ 5, das Ticket nach Bogota ist gekauft, eine Karte für Gertrud geschrieben. - 6 h Miami ab. – Zwischenlandung Barranquilla. – Bogota-Flugplatz. Gegen 11 schaute ich zum erstenmal im Zentrum auf die Uhr. Fahrt mit dem Bus 2 Peso. Im Bus sprach mich ein junger Mann Deutsch an. Ich fand ein Hotel mit Dusche und eigenem Klo (allerdings einer sehr dünnen Tür). Erst einmal schlief ich, bis gegen 3. Das ging alles so schnell, daß ich noch gar nicht recht fassen kann, wo ich wirklich bin: in Südamerika. Gerade habe ich zu Abend gegessen, in einer kleinen Kneipe, wo es „Paella valenciana“, ein Reisgericht mit Gemüse darunter gemischt und Hähnchenfleich gibt (ein langes, schwarzes Haar war auch dabei). Der ganze Berg kostete 30 Pesos, also 2 Mark 40. Ich habe schon einen Stadtrundgang gemacht. Auf den Straßen viele Jammergestalten.

Freitag, 25. April: Bogota. Plaza de Bolivar, gegen ½ 4. Am Denkmal Bolivars gegenüber der Iglesia San Ignacio sitzt neben mir ein Typ „Pennbruder“, unglaublich schmutzig, etwa 30 Jahre alt, Gummistiefel, ein großer Stock. Er holt einen Schreibblock, zerschlissen, aus einer gelben Tragetasche und schreibt, schreibt schon seit 10, 15 Minuten. Ich möchte ihn fotografieren, traue mich aber nicht. - Heute Morgen ging ich schon um 7 Uhr los, zuerst in Richtung Süden zum Plaza de Toros. Dann stieg ich bergauf in teilweise verslumte Wohngegend. Ein LKW-Fahrer warnte mich vor Raub und wies auf meine Filmkamera. Aber die Leute machten einen friedlichen Eindruck und kein Mensch störte mich beim Filmen. Mittagsschlaf. Danach wieder den Berg hinauf. Zuerst jedoch ging ich zum Busbahnhof, um mich nach Fahrgelegenheiten nach Cali zu erkundigen. Günstig. Auffallend: Bis jetzt wurde ich noch nicht ein einzigesmal angebettelt. Überhaupt machen die Menschen hier einen „guten Eindruck“, auch in der Art, wie sie sich gegeneinander verhalten. Junge Paare küssen sich auf der Straße. Es fehlt die verkrampfte Prüderie Spaniens und die Frauenverachtung des Orients. Elend und Armut ist sichtbar, aber das ist nicht so erdrückend. – In einer „Loncheria“ trinke ich ein Bier, man kann hier zwischen verschiedenen Marken wählen. Vorhin ging ich ins Innere der Kirche San Francisco, innen und außen in wunderschönem spanischen Barock. Ganze Batterien von Kerzen, die von Passanten am Eingang gekauft werden. Ich kann mich der Faszination der katholischen Szenerie nicht entziehen, so sehr ich auch über die Motive und Hintergründe dieser Religion wütend werden kann. Die Bilder liebe ich und lasse mich von ihnen rühren. Den ganzen Tag geht mir der Begriff „Gott ist Kolumbianer“ nicht aus dem Sinn, es muß ein Buchtitel sein. „Che“ Guevara, ist er nicht hier gejagt und getötet worden? (Nein, in Bolivien) Man sieht Bilder von ihm an Hauswänden, in Schallplattengeschäften. Was wollte er nur hier? Die Macht erlangen über dieses Land, über diese armen Menschen? Welchen Leuten geht es hier eigentlich gut? Den Landbesitzern, Bauunternehmern, Architekten? In einem solchen Land muß man längere Zeit leben, ehe man mehr von ihm erfährt. Ein gewisses Bild kann man sich schon machen: Schuhputzer, fliegende Händler, Scharen von Losverkäufern, streunende Kinder und Alte sprechen eine deutliche Sprache. Wichtig ist es hier, und das gilt für alle „armen“ Länder im „kapitalistischen Lager“, daß man „Arbeit“ hat und sei sie auch noch so schlecht bezahlt. Samstag, 26. April: Bogota, Hotel Vas. Kurz nach 6 Uhr morgens. Ich liege jetzt schon über 12 Stunden im Bett, davon die längste Zeit schlafend. Gegen 7 ging ich zum Busbahnhof, um ein Ticket für Manizales zu lösen. Warum nach Manizales? Es liegt vielleicht in den Bergen. Es ist jetzt kurz nach 9, ich habe mich mit Lebensmittel eingedeckt, Käse, kleine Brote, Äpfel. Der Bus geht um 10 und soll 9 Stunden brauchen. Honda. – 2 Uhr nachmittags. Hier wird erstmals nach längerer Zeit Station gemacht. Bisher ging es über gewaltige Paßstraßen durch Regenwälder. Manizales. Kurz vor 8 abends, in einem Hotel. Nach über 9 Stunden Busfahrt in dieser sehr lebhaften Stadt angekommen. Die Reise ging quer durch die Anden, nur ein einzigesmal, nach Honda, gab es eine flache Strecke, sonst nur Pässe, Serpentinen, über Straßen, die in steile Hänge eingegraben wur-den, vorbei an elenden Hütten. Nach Honda durch urwaldähnliches Gebiet, das in riesige Kaffeeplantagen überging.

Sonntag, 27. April: Manizales (eigenes Foto rechts). Erst bei Tageslicht läßt sich erkennen, in was für einer elenden Andenstadt ich hier gelandet bin. Ich sitze in einem Cafe und habe gerade vier trockene Gebäckstücke gegessen und einen weißen Kaffe dazu getrunken. Zu gestern: in Bogota setzte sich ein junger Mann neben mich, mit dem ich während der Fahrt in ein sehr holpriges Gespräch kam. Hier angekommen, bot er mir an, mir die Stadt zu zeigen. Er kam sehr pünktlich mit einem Freund ins Hotel und wir bummelten durch eine belebte Straße der Oberstadt. Als wir in ein Lokal gehen wollten, tauchte ein Trupp Polizisten auf und durchsuchte wahllos junge Männer im Lokal nach Waffen. Eine makabre Situation, die hier offen-bar als völlig normal empfunden wird. Die Durchsuchten verhielten sich völlig ruhig, ja gelegentlich belustigt. Anschließend gingen wir in eine ziemlich elende zugige Hütte, wo drei Männer kolumbianische Lieder zur Gitarre sangen. Wieder in der Stadt zurück, tranken wir noch einen Kaffee, ich machte den beiden klar, daß ich müde sei. Im Hotel boten sie sich an, heute wiederzukommen. Beide sind Familienväter, der ein 25, der andere 26. Der Ältere, der mich im Bus begleitete (Pablo Emilio Acosta, auf dem eigenen Foto rechts), arbeitet in Bogota und hat Frau und zwei Kinder hier, der andere ist in einem Büro beschäftigt (wo blieben damals mein Misstrauen und meine Vorsicht?). Was erfuhr ich noch von den beiden, die allerdings keinen besonders gut informierten Eindruck machten? Ein Arbeiter soll nicht mehr als 1200 Pesos verdienen; die Scheidung ist nicht möglich. – Gerade habe ich mir eine Lokalzeitung von Manizales „La Patria“ gekauft. Ich hätte Lust, mir von allen meinen Stationen, die ich bereise, ein Exemplar der dort erscheinenden Zeitungen zu kaufen. – Die Populärmusik in Kolumbien erinnert sehr an den portugiesischen Fado und ist wie dieser sehr einfach strukturiert. Amerikanische Musik hört man im Original nicht, allenfalls Übersetzungen. Mittagszeit. Gerade zurück von einem Stadtrundgang mit den beiden von gestern Abend. So elend ist die Stadt nicht, wie sie mir heute Morgen vorkam. Wir kamen durch ein Viertel mit ganz originellen alten Wohnhäusern, das machte einen vertraulichen Eindruck. Erfahren: Es gibt hier drei große Parteien, die Liberalen, die jetzt an der Macht sind, die Konservativen und eine weitere Partei, von der sie nur die Abkürzung kannten. Die Stadt wimmelt von Polizisten, warum? – In einem Cafe. Ich trinke einen „tinto“, sehr „grande“, in einem dieser typischen Cafes mit Schallplattenmusik. Der Kaffee schmeckt auch schwarz ausgezeichnet, mild, nicht bitter. Das Wetter wechselt von einer Stunde zur anderen unerhört schnell, plötzliche Nebeleinfälle weichen schönstem Sonnenschein und umgekehrt. Ich fühle mich wohl hier, wenngleich ich meine Fotosachen besser aufgehoben wüßte als im Hotelzimmer.
Zum Kaffee: Das war gewöhnlicher „Instant“-Kaffee – was doch die Einbildung zuwege bringt. Inzwischen ist es 6 Uhr abends geworden. Dank des Kaffees funktioniert mein Darm gegen sonstige Gewohnheit beim Reisen ausgezeichnet. Vielleicht hat auch das halbe Pfund Trockenpflaumen von gestern seine segensreiche Wirkung getan. Ich würde mich jetzt gerne etwas mit Medizin beschäftigen, ganz beiläufig mit Mikrobiologie (mir fällt wieder einmal nicht ein, wie der Erreger der Ruhr heißt, das ist schon lächerlich). Schmerz um I. und Ulrike, ja, sie vermisse ich, mit ihrer Unbeschwertheit und Sorglosigkeit, ihrer Appetitlichkeit und Freude am Körperkontakt konnte sie mich von I. ablenken, vielleicht sogar abbringen.

Montag, 28. April: Per Bus Manizales–Armenia–Cali. Im Bus nach Armenia, ½ 8. Ziemlich willkürlich, einmal weil es hier stark regnet, zum anderen weil es wohl auf der Strecke nach Cali liegt, habe ich mich für Armenia als nächstem Reiseziel entschieden. In einer Stadt (Santa Rosa?) in Richtung Armenia: Es regnet immer noch in Strömen. Die Fahrt ging durch kultivierte Wildnis, Kaffeeplantagen, die sich von Berg zu Berg und Hang zu Hang hinzogen, dazwischen Bananenbäume, Agaven, eine exotische Schau. – Pereira: ich versuche Filmaufnahmen der vorüberziehenden Landschaft zu machen, schwierig bis unmöglich. Als ich in Armenia ankam, regnete es so fürchterlich, daß ich mich gleich nach einem Bus nach Cali erkundigte. Und tatsächlich hatte ich praktisch unmittelbar Anschluß mit einem „Directo“-Bus. Wir machen jetzt Station in einer ziemlich einsamen Gegend. Die Landschaft ist völlig verändert. Aus dem Regengebiet sind wir draußen. Das Waldgebiet ist einer kargen, von unbewaldeten Hügeln geprägter Landschaft gewichen. – Cali: Ja, nun bin ich in Cali, nicht weit vom Pazifik, nachdem die Fahrt heute von den Anden in die beschriebene Landschaft und schließlich in ein weites Tal mündete. Schon ein Stadtbummel. Cali ist noch schön, wird aber nach und nach von häßlichen Betonklötzen verschandelt. Im Zentrum ein Palmenplatz, noch einige reichlich mit Stuck verzierte Gebäude (vorhin sah ich einen Fluggast, den ich damals als Schwulen eingeschätzt habe). Neben mich setzte sich eben eine vierschrötige Type, zeigte mir einen „Ausweis“, ich verstand soviel wie „Detektiv“ und etwas von Waffen kontrollieren. Als ich plötzlich zwischen zwei saß, machte ich mich weg. Das Klima ist sehr angenehm. Ja, besonders gut aussehende, gepflegte Damen, die dem Ruf, die schönsten des Landes zu sein, wohl gerecht werden wollen. Sehr viele Neger. – Es ist jetzt ¼ vor 7. Diesmal habe ich doch ein allzu primitives „Hotel“ erwischt, der Belgier in Miami hat es mir empfohlen. Das hätte ich mir doch ersparen sollen, keine Dusche, kein Klo, das alles außerhalb. Aber ich genieße es, durch die Stadt zu laufen, Früchte zu kosten, Süßholz (?) zu lutschen, Fruchtsäfte zu trinken und mir die Menschen anzusehen. Ob ich mit dem Bus weiterfahren soll? Bogota ist nur über einen riesigen Umweg zu erreichen, da gibt es keine direkte Straße, es sei denn, ich fahre weiter nach Süden und versuche nach Neiva zu kommen. Man wird sehen, ich habe es ja nicht eilig. Ich trinke wieder mein Bier. Die Losverkäufer: viele von ihnen sehen aus, als würden sie tagsüber etwas anderes arbeiten. Ein frustrierender Job. Sie werden mit Nichtachtung behandelt; das kann sich nicht lohnen, im mitteleuropäischen Sinn. Insgesamt ist das ein „Verkäufermarkt“ (ist das richtig?), der Kleinhandel mit Früchten, Gürteln, Brieftaschen, Gebäck. In den neuen Kaufhallen wird das alles viel appetitlicher angeboten. Ich glaube, die Großmäuligkeit spielt bei den Männern hier eine wichtige Rolle, Selbstwert zu erzeugen. – Im „Casa des Pasaje“: Das ist nun gar nicht nach meinem Geschmack. Die hygienischen Verhältnisse sind ihr Geld nicht wert, die Dusche kalt. Diesen „Tip“ hätte ich nicht befolgen sollen und lieber ins Hotel gehen. Morgen ziehe ich hier wieder aus.

Dienstag, 29. April: Cali, Busbahnhof, ½ 8 morgens. Ich habe mich entgegen meiner ursprünglichen Absicht doch entschlossen, nach Bogota zurückzufahren. Das soll 11 Stunden dauern und kostet 120 Pesos. Mir kam plötzlich zu Bewußtsein, daß ich hier wenig anderes anzufangen wüßte als herumzugehen und zu –sitzen. Und das kann ich in Bogota auch. Außerdem möchte ich den 1. Mai in Bogota begehen. – In den Bergen zwischen Cali und Armenia (das stimmt nicht, entweder wir haben Armenia nicht durchfahren oder schon hinter uns): Der Bus kam nicht weiter, weil ein Tieflader eine Serpentine nicht schaffte. Es bildet sich schon eine Schlange aus Lastern und Bussen. Ich habe in irgendeiner Stadt einen weißen Käse gekauft und sofort verspeist. Wie lange das hier dauern wird, ist nicht abzusehen. Nicht sehr viel weiter: Der Paß ist noch nicht überwunden. Wieder ein Stop, Ursache nicht sichtbar. Wir haben einen grandiosen Paß befahren. Ibagne: Einen größeren Idioten als mich gibt es nicht. Ich habe meine Brieftasche verloren, ja verloren. Das ist eigentlich nicht zu glauben. Der Junge hinter dem Buffet hat sie gefunden, das ist auch unglaublich. In der Tasche waren 111 Dollars. – Girardot: der innere der linken hinteren Zwillingsreifen hat in der Stadt einen Platten bekommen. Eine Fahrt mit Hindernissen, rechnet man noch meine Brieftaschengeschichte dazu. Das darf ich niemanden erzählen. Es ist herrlich warm. - Bogota, Hotel Panamericano: Nach über 12 Stunden Busfahrt wieder in Bogota. Das Hotel liegt wie das Hotel Vas in der Calle 15, ist etwas teurer, aber auch wirklich ruhiger, eher „unser“ Standard, ohne Oberlicht, allerdings spart man auch hier mit Handtüchern, und die Dusche wird auch nicht warm (stimmt nicht, ich habe den falschen Hahn betätigt). Ich überlegte schon die ganze Zeit, wann ich abreisen soll. Die Verabredung mit diesem Emilio (einer der beiden aus Manizales) möchte ich gerne einhalten und den 1. Mai auch hier verbringen. Vorhin fraß ich fast eine halbe Ananas (die ganze für 10 Pesos) und bekam böses Darmgrimmen davon.

Mittwoch, 30. April: Bogota (Montserrat). Mit einer Seilbahn fuhr ich vom „Tal“ aus hier herauf auf den Montserrat. Leider ist die Stadt in einem leichten Dunstschleier gehüllt. Aber der Ausblick von über 3000 Meter Höhe ist famos. Von unten dröhnt der Lärm dieser 2,5-Millionen-Stadt, den Geruch der Auspuffgase spürt man bis hier oben. – Im Hotel: Entgegen meiner ursprünglichen Absicht, bis Montag zu bleiben, werde ich bereits morgen fliegen und dann doch per Bus weiterfahren. Eine neue Erfahrung: Mit Emilio (siehe oben) aus Manizales ging ich in ein Tanzlokal, wo sich Mädchen an unseren Tisch setzten. Es sind bezahlte Damen, und für 20 Flaschen Bier plus die gleiche Menge winziger Portionen Wein für die Damen mußten 140 Pesos auf den Tisch gelegt werden. Das ist nicht viel, aber für den armen Emilio eine Menge, zumal ich nicht mehr als vielleicht 40 Pesos dazusteuern konnte (warum?). Bei einem Gang durch die Stadt wurden wir von Soldaten nach Waffen durchsucht.

Donnerstag, 1. Mai: Bogota, Aero Puerto Dorado. Adios Bogota. Ich sitze im Flugzeug, nachdem mich dieser Pablo Emilio (eigenes Foto links) hierher begleitet hat. Der arme Kerl hat sich gestern Abend im Restaurant mit den Animierdamen völlig verausgabt, finanziell. Aber heute Morgen war er pünktlich wie verabredet im Hotel, um mich abzuholen. Ursprünglich wollte ich noch eine Ledertasche kaufen, aber die Geschäfte waren geschlossen und hier am Flugplatz waren sie mir doch zu teuer. Meinem Begleiter soll ich als Andenken (recuerdo) eine Uhr schicken. Das ist keine schlechte Idee (die ich freilich leider nie verwirklichte). - Flug Bogota–Barranquilla–Miami–Miami, YMCA-Gästehaus. Nach einem angenehmen Flug bin ich gegen 6 (Ortszeit) in Miami angekommen. Mit dem Bus downtown gefahren (30 Cent) und hier im YMCA-Haus für 7,74 Dollar untergekommen. Kleiner Stadtrundgang. Sehr warm, sehr angenehm, da windig. Im Flugzeug war eine Gruppe von Reiseunternehmen-Manager, mit einigen von ihnen ins Gespräch gekommen. Nichts besonderes, aber immerhin den Tip, daß King of Prussia an der Pennsylvenia-Turnpike in Richtung Pittsburgh liegt. Gelegentlich noch Bauchgrimmen, vermutlich immer noch eine Folge der herrlichen Ananas. Ein kurzes Fazit meiner Kolumbien-Reise: Es wäre Unsinn gewesen, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen! Diese Reise war ihr Geld und den Aufwand wert.

Freitag, 2. Mai: Miami, Greyhound-Busbahnhof. Es ist etwa ½ 12, gerade habe ich mein Ticket für Orlando gelöst, um von dort aus einen Disneyland (richtig: Disney-World)-Besuch zu machen. Immer noch gelegentlich Bauchschmerzen. Gut gefrühstückt (in einem store eingekauft). Bis 9 Uhr im Bett., trotz Ventilatorenlärm gut geschlafen. – Orlando, Hotel: Gegen 7 Uhr, vom Greyhound-Bahnhof aus kam ich nach einem vielleicht 20minütigen Marsch nach downtown Orlando. Von hier aus erreicht man am besten Disneyland. Das Hotel kostet 7,80. Die Stadt wirkt entvölkert. Überall bieten Ständer Prospekte von Florida-Sehenswürdigkeiten an wie „Sunken Treasure“-Museum, man kann einen spanischen Schatz sehen, der bei der Zerstörung ein sp. Flotte 1715 mit untergegangen ist (in Cap Canaveral), „Titki-Gardens“, „St. Augustin’s Oldest Stor Museum“, „Six Gun Territory“, a complete Western town etc. – Durchfall, immer noch eine Folge der Ananas? Das Hemd gewaschen. Ich fühle mich wohl, habe eine Büchse Coca Cola getrunken (schmeckt mir nur hier!).

Samstag, 3. Mai: Orlando–Disney-World, morgens. Gerade habe ich einen Becher Chili and Beans gegessen, eine appetitiliche Sache (immer noch Koliken). Von Orlando mit Greyhound hierher. Menschenmassen, amerikanische Frauen sind solche Schreckschrauben, daß selbst mein nicht allzu empfindliches ästhet. Gefühl von soviel Unansehnlichkeit gestört wird. – Orlando, Greyhound-Busbahnhof: Das Ticket für N. Orleans ist gelöst. Dünnschiß, immer noch, und wahrscheinlich noch so lange als die Koliken anhalten.

Sonntag, 4. Mai: Nachts Orlando-New Orleans–Tallahassee, Busbahnhof, 0.45. Meine Koliken nehmen zu, besonders nach einem kalten Saft. Sauerei. Am liebsten würde ich mich ins Flugzeug setzen, nach Philadelphia fliegen, dort eine Woche bleiben und mich wieder nach Deutschland abmachen. – New Orleans, Canal Street: Heute bin ich abgestiegen, im (Hotel) Howard Johnson für 23,50 Dollar. Aber nur, weil es mir so schlecht ging. Meine Bauchbeschwerden haben einen beängstigenden Umfang angenommen. Nach einem mehrstündigen Schlaf fühle ich mich zwar zerschlagen, habe Gliederschmerzen und der Bauch rumort immer noch. Aber inzwischen habe ich einen „Whopper“ gegessen, zwei Milchshakes getrunken und einen „apple pie“ verzehrt. Von meinem morgigen Zustand mache ich die Entscheidung „Fliegen oder mit dem Bus weiterfahren“ abhängig. Ich habe das Reisen satt, andererseits möchte ich das vorgenommene „Programm“ (mit dem Bus den Mississippi entlang aufwärts fahren) wenn möglich abwickeln. Bezeichnende für meinen Zustand ist, daß ich nicht mehr ausgehe, um das „Nachtleben“ von New Orleans zu beobachten. Ich bin einfach zu kaputt.

Montag, 5. Mai: New Orleans, Hotel Howard Johnson. Als ein „Mann schneller Entschlüsse“ habe ich soeben ein Ticket nach Philadelphia gelöst. So geht das nicht weiter. Mein Darminhalt läuft aus wie Wasser, heute Nacht habe ich ins Bett gemacht. Ich bin ziemlich derangiert und hoffe nur, daß ich die beiden (Todd und Linda Pearson) auch antreffe. Mit Bananen versuche ich jetzt, den Fluß zu stillen. – Jetzt sitze ich auf einer Bank in einem kleinen Park nahe der Canal Str., nach einem ausgedehnten Fußmarsch durch „Vieux Carree“. Die Stadt „gehört“ den Schwarzen, Weiße sind deutlich in der Minderheit, und die meisten von ihnen dürften ohnehin nicht downtown wohnen. Um 3 Uhr morgens soll die Maschine fliegen, also in mehr als 12 Stunden. - Irgendwo in der Nähe des Flugplatzes: Gerade habe ich eine Büchse „Dixie“-Bier getrunken. Meine Begierde nach Bier hatte ein derartiges Ausmaß angenommen, daß ich „meilenweit“ danach gelaufen wäre. Meine Reiselust ist unter den 0-Punkt gesunken, obwohl mein Bauch sich nach 4 Bananen, einem Apfel und 2 Orangen offenbar wieder zu regenerieren beginnt. Die Koliken sind wesentlich seltener geworden, und der Defäkationsdrang hat ebenfalls nachgelassen. Ich kann wohl wieder aufatmen. Jetzt noch die Nacht und die „Arbeit“, die Pearsons zu finden. Die werden sich schön wundern. So unwohl fühle ich mich gar nicht mehr, insbesondere die Vorstellung stundenlanger Busfahrten hat mich wohl deprimiert. Im Flughafengebäude: Es geht auf 8 zu, jetzt geht die Warterei los. Dienstag, 6. Mai: Gleich 2 Uhr, in einer Stunde geht die Maschine. Atlanta, Flughafen: Ein enormer Betrieb ist das hier. Es ist ½ 6 (wohl schon östlicher Zeit). Daß sich mein Darm so schnell beruhigt hat, ist schon für sich beunruhigend. Was sich da wohl abgespielt haben mag? Infektion oder eine Art „Intoxikation“ durch die Ananas? Keine Abneigung gegen die Frucht. Wie meine Damen im Augenblick wohl an mich denken? I. hat genügend Zeit, sie liegt im Bett und pflegt ihren Zeh. Vielleicht ist sie längst „vernünftig“ geworden und hat mich aus ihrem Interesse gestrichen.
Im Flugzeug (Boeing 727) zwischen Atlanta und Philadelphia: Ein Frühstück „a la America“ hinter mir, zwei Toastschnitten, zwei Würstchen, dazu Syrup und ein Schluck Orangensaft. Der Kaffee war stark und nicht nach meinem Geschmack. Im Augenblick fliegen wir über ein Seenetz. Es ist wolkenlos. In der Maschine ist es kalt wie in allen Innenräumen dieses Landes, seien es Busse, Geschäfte etc. Das ist eine Zwangskrankheit. Unter mir ist jetzt ein dichter Wolkenteppich. In Ph. Sollen es 48 Grad F sein, also relativ kalt. Den Flug zwischen N. O. und Atlanta habe ich größtenteils verschlafen, und auch jetzt vor dem Start bin ich wieder eingenickt. Die Wolkendecke reißt ab, schräg östlich von uns ist ein Fluß zu sehen. Neben mir studiert eine Mann meines Alters eifrig irgendwelche Papiere. Vorher las er „The Dynamics of Personal Leadership“. Einer, der Karriere machen will. Die Oberflächenstruktur der Wolkendecke hat sich gewandelt, die feine Fältelung ist einer groben, mehr amorphen Form gewichen. Es herrschen Turbulenzen, die Maschine wird geschüttelt und beginnt, tiefer zu gehen. Das Meer ist zu sehen.
Philadelphia, Greyhound-Busbahnhof: Ich bin völlig erledigt und gehe „auf dem Zahnfleisch“. Es gibt Busse nach King of Prussia! Wenn die beiden nicht zuhause sind, werde ich verrückt. Ich brauche unbedingt Schlaf. In einem Büro für Stellenvermittlung sah ich Angebote für Ärzte im Public Health Service, die mit 19 Dollar pro Stunde bezahlt werden.
King of Prussia: Jetzt bin ich hier, und natürlich ist niemand zuhause. Eines weiß ich: lange bleibe ich hier nicht. Ab Montag kann ich zurückfliegen. Diese Appartementsiedlung wirkt wie eine Geisterstadt, keine Menschen in den Straßen, gelegentlich rollt ein Auto vorbei, keine Kinder, keine Geschäfte, keine Bänke. Hier müssen Menschen ja verrückt werden oder wenigstens depressiv.

Dienstag, 7. Mai: King of Prussia. Nach 15 Stunden Schlaf mit nur einer kurzen Unterbrechung sieht die Welt wieder anders aus. Zunächst kam Linda, mit der ich lange palaverte, ehe Todd gegen 7 aus der Schule kam. Die Pearsons leben in der „Mainline“, worunter ein Gebiet um Philadelphia herum verstanden wird, in dem sich Wohlhabenheit und das Bewußtsein zu Amerikas besten Leuten zu gehören, paart. Die Beiden zahlen für das Appartement über 200 Dollar. Abgesehen von der Lage in dieser traurigen, von neugierigen Hausfrauen tagsüber beherrschten Siedlung und der nahen Autobahn, erscheint die Wohnung gerade geeignet für die beiden zu sein. Ein großer Wohnraum „ums Eck“ mit kleiner Küche und zwei weiteren nebeneinander liegenden Räumen, wovon einer als Todds Arbeitszimmer dient, sowie Bad und Abstellraum lassen genügend Bewegungsfreiheit

Donnerstag, 8. Mai: In „Kingswood“, so heißt die Siedlung hier, macht die Sonne was her. Schon gestern hatte ich den Eindruck einer toten Stadt überwunden, weil die Sonne die Menschen aus ihren Häusern lockte. Ich lese Stefan Zweig „Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“, seine ohne Unterlagen im Exil geschriebenen Memoiren, geschliffen, elegisch, einer Welt der Sicherheit und Beständigkeit nachtrauernd (für die er die Zeit vor dem 1. Weltkrieg hielt). - Ich habe mir vorgenommen, den Rückflug für den 15. Mai zu buchen. Am Freitag nimmt Todd mich in eine seiner Klassen mit, ich soll den Schülern beweisen, daß es leibhaftige Deutsche gibt, Menschen also, die die von ihnen mit viel Mühe gelernte Sprache auch tatsächlich sprechen (so Todds Gedanke). Außerdem soll ich ihnen etwas über Dialekte erzählen. Ich war in der „Stadt“, ein amorphes Gebilde ohne Zusammenhang, Bürgersteige, leibhaftige Menschen. Ein häßliches Gebilde, ein Konglomerat aus Straßen, Restaurant amerik. Stils, Tankstellen, Hotels und Einfamilienhäusern und einem Spielplatz. Eine in unserem Sinne unwohnliche Stadt, in der die einzelnen sie ausmachenden Elemente zusammenhanglos hingebaut wurden. Welche Bedürfnisse haben die hier wohnenden Menschen?

Freitag, 10. Mai: Neue Aspekte beim Versuch, den Rückflug früher als gewünscht zu bestellen. Für Mai sind alle Maschinen der „Loftleidir“ ausgebucht. Vorsorglich ließ ich mich für kommende Woche auf eine Warteliste setzen. Es drängt mich nicht zurück, aber noch fast 4 Wochen hier verbringen zu müssen, ist doch keine verlockende Aussicht. – Gestern nahm ich an Todds Unterricht in der Haverford School teil. Diese Schule ist eine private Einrichtung, die Lehrerschaft besteht mit wenigen Ausnahmen aus WASP (White Anglo-Saxon Protestants). Die Schüler sind Kinder wohlhabender Eltern aus der „Mainline“, ein Drittel von ihnen jüdischer Herkunft. Ein paar Feigenblatt-Neger (ich meinte wohl „Alibi-Neger“) sah ich auch darunter. Für jedes Kind müssen jährlich 2500 Dollar Gebühren gezahlt werden. Todd stellte mir die Aufgabe, den Schülern auf ihre Fragen zu antworten, und das funktionierte so gut, daß ich meine Rolle ziemlich erfolgreich spielte und Eindruck hinterließ. Ich konnte einige falsche Vorstellungen korrigieren, so kam zweimal die Frage nach der „sozialistischen Medizin“ in Deutschland. Todd war ganz begeistert, und ich war ganz erstaunt, daß ich auch vor einem Auditorium sprechen kann – das erstemal überhaupt, wenn ich die Auftritte bei Vossschulte nicht berücksichtige (Vorstellung eines chirurgischen Falles während des Studiums). – In „National Geographic“ etwas über Baltimore gelesen. Die englische Sprache! Es erscheinen immer wieder neue Wörter und Begriffe, die mir völlig unbekannt sind. Von der „Beherrschung“ der Sprache bin ich noch meilenweit entfernt. Auch beim Verständnis des gesprochenen Wortes zeigen sich erhebliche Schwächen. – Ich lasse mich bräunen, die Sonne besitzt sommerliche Intensität. Fett werde ich auch, durch gutes Essen, mit dem ich sparsam umzugehen versuche, Wein, Bier.

Samstag, 11. Mai: Etwas „Unzeitgemäßes“: ich sollte mir eine Wohnung in Wetzlars Altstadt suchen. Diese alte Idee belebt sich wieder unter dem Eindruck von Zweigs Schilderung des Vorweltkriegs-Paris. Nichts derartiges läßt sich erwarten, aber durch Altes, historisch Durch-wirktes Besinnung auf die eigene Bedeutung als ein an der Zeit Teilnehmender. – „Lie-Detectors Tests on Employers spread Among Firms“, The Sunday Bulletin berichtet über zunehmenden Einsatz von Lügendetektoren.
Philadelphia, Busbahnhof, 5.20 PM: Den ganzen Nachmitag in der Stadt verbracht, wo ein Volksfest „Way of America“ tausende von Menschen (es sollen 1,5 Millionen gewesen sein) auf die sonnenbeschienene Strecke zwischen City Hall und Kunstmuseum zog. Ich filmte Tanzszenen (Square Dance), Menschen (diese Veranstaltung war ein Auftakt zur 200-Jahrfeier der USA).

Montag, 12. Mai: King of Prussia. Todd ist an seiner Schule mit einem der Lehrer etwas besser bekannt, ein kleiner rotgesichtiger, glatzköpfiger Mann von etwa fünfzig, er gibt Geschichtsunterricht den letzten Klassen und lehrt hier nur, wie Todd meint, um die Zeit auszufüllen, da er vermögend sei und zu arbeiten nicht nötig habe. Diese nicht sehr eindrucksvolle Gestalt sammelt seit Ende des Krieges, den er als Soldat in Deutschland erlebte, Nazi-Trophäen. Er spricht - bei einer Begegnung - in einer derart erschreckenden Distanzlosigkeit von Uniformen Görings, Standarten, Auszeichnungen der Nazigrößen, dem Kaffeeservice Hitlers, daß man davon ausgehen kann, daß diese Sammlung für ihn nicht nur ihrer Rarität wegen Wert hat sondern monumental an eine Bewegung erinnern soll, die der Welt wichtiges und wertvolles Gedankengut vermittelt hat. Wer aber das Nazitum nur in seinen pompösen Ritualen, seinen „Größen“ und deren selbstverliehenen Auszeichnungen und Symbolen wiedererkennt, den muß ich als Verrückten, aber als potentiell gefährlichen Verrückten, aber auch als abgrundtief dumme Kreatur einstufen (der Moralist in mir!).

Anmerkung: Ich habe den Namen jenes Lehrers vergessen, aber von Todd Jahre später erfahren, dass er in telefonischem Kontakt mit dem ehemaligen Präsidenten Österreichs Waldheim stand – Todd nahm einmal zufällig in der Schule ein Telefonat Waldheims entgegen, in dem er nach eben jenem Lehrer fragte. Zudem machte er mit Schülern „Exkursionen“ zu Leni Riefenstahl, die er angeblich gut kannte.

Heute erstmals Avocado gegessen, eine im Äußeren der Birne ähnliche Frucht mit weichem, etwas schmierigen zarten Fleisch, dessen Geschmack „geschmacklos“ ist und doch von einem so spezifischen leichten Aroma, daß man es „wiedererkennen“ müßte. Nachtrag: Am Samstagabend besuchten wir ein Lokal in Conshohocken, um hier auf Todd’s Geburtstag zu speisen. Es war eines jener „originellen“ Restaurants mit einer das Auge ansprechenden Ausstattung. Die Decke gestaltet nach der Technik von Kirchenfenstern, farbige Figuren, Blätter, Blumen. Dazu passende Lampenschirme, Wände. Anmerkung: Damals wusste ich noch nichts vom Tiffany-Stil, dem wohl die Einrichtung nachempfunden war.

Dienstag, 13. Mai: Philadelphia, an der City Hall. Ich habe wieder einmal einen meiner Stadtstreifzüge gemacht. Zunächst hielt ich mich kurz im Innenhof der City Hall auf, um die Angebote für Ärzte des PHS (Public Health Service) zu studieren. Dann ging ich die Market St. südwärts, überquerte den Schuykill-Fluß und bog dann zur Drexel-Universität ab. Hier hoffte ich einen Buchladen mit medizinischer Literatur zu finden, aber vergeblich. Dafür kaufte ich Thoreaus Schriften und ging dann durch die Chestnut St. zurück zum Zentrum. Es gibt noch intakte Stadtarchitektur, wohl aus der Zeit nach der Jahrhundertwende. Eine Karte an Schneider wegen der Vertretung. Ich bin müde, muß aber noch 1 ½ Stunde auf den Bus warten. Vielleicht sollte ich mir einmal Gedanken machen über meine gegenwärtige Beziehung zu Todd und Linda.

Mittwoch, 14. Mai: Newton Square (ein Einkaufszentrum). In dieser Gegend halte ich mich heute Morgen auf, weil ich Todd’s Auto zur Inspektion gefahren habe. Nach einem kleinen Spaziergang vorbei an schmucken, sauberen Anwesen, denen aber wiederum die Menschen zu fehlen scheinen, sitze ich auf einer Bank (sicherlich auf einer „privaten“) und sinniere. Ich mußte wieder einmal intensiv an I. denken (von der ich natürlich hier einiges erzählt habe). Obwohl ich weiß, daß diese Beziehung in ihren ursprünglichen Ansprüchen nicht aufrechtzuerhalten ist. Andererseits spüre ich doch, daß ich zunehmend Distanz zu dieser Geschichte gewinne, und angesichts dessen zieht es mich nicht zurück, jedenfalls nicht, solange ich im Ungewissen bin über ihre Beziehung zu mir. Einerseits hoffe ich, daß auch sie Abstand gewonnen hat, fürchte dies aber zur gleichen Zeit.
Zur Zeit erregt ein Verbrechen die Leute hier. In Conshohocken wurden zwei Mädchen in einen Lkw-Anhänger eingesperrt und dieser angezündet. Eines der Mädchen verbrannte, das andere konnte mit schweren Verbrennungen gerettet werden. Bisher ist das Motiv völlig unklar, zumal beide Mädchen die mutmaßlichen Täter kannten, aber angeblich vergewaltigt (raped) wurden. Die hiesigen Zeitungen berichten täglich auf das Ausführlichste darüber, und sie haben täglich irgendwelche Korrekturen der vorangegangenen Berichte vorzunehmen, denn ständig ergibt sich etwas neues. Eine spannende Geschichte, weil sie wohl auch spannend dargestellt wird. Neben Zweigs Buch lese ich noch „Das siebte Kreuz“ von Anna Seghers und Brechts „Kalendergeschichten“, und natürlich die Zeitungen, immer flüssiger, leichter. Vorhin habe ich ein von Linda vorzügliches „Stew“ gegessen, eine Art Fleischeintopf mit Bohnen, Kartoffeln und verschiedenen anderen Gemüsen, dazu sehr pikant gewürzt. Linda ist eine „perfekte Hausfrau“, sie kocht ohne großen Aufwand schmackhafte Gerichte, macht die ganze Hausarbeit ohne viel Aufhebens. Nebenbei schreibt sie für Todd noch Texte, die er in fleißiger Arbeit nach der Schule für den Unterricht zusammenstellt.

Donnerstag, 15. Mai: Brief vom Kreis Wetzlar wegen Gesundheitsamt (ich hatte mich vor Beginn der Reise nach einer Tätigkeit am Kreisgesundheitsamt Wetzlar erkundigt). Die sonnigen Tage, wie gestern und heute, verbringe ich größtenteils auf dem Balkon. Die Bewegungsarmut und das gute Essen lassen mein Unterhautfettgewebe zunehmen. Ich lese gerade in „National Geographic“ einen Bericht über Utah. – Störe ich die Pearsons eigentlich? Ich sollte mir keine großen Gedanken darüber machen. Die beiden sind durch Arbeit so in Anspruch genommen, daß ich sie zumindest tagsüber nicht störe, und abends können sie sich durch mich in der deutschen Sprache über. Aber ich bin ungeduldig. Nicht daß es mich mit großer Kraft zurück zieht, aber nicht zu wissen, wie sich „die Verhältnisse“ entwickelt haben, das macht mich etwas unruhig. Diese Ungeduld, das Unstete, die mangelnde Fähigkeit, mit den vorhandenen Mitteln das Bestmögliche anzufangen, läßt mich mein Leben so unbefriedigt erscheinen. Nie etwas richtig zu Ende bringen, keine „schöpferische“ Tätigkeit. (Wie bescheiden muß ich noch werden, um mir nicht mehr die Frage zu stellen, was ich mit mir eigentlich falsch mache?). Dazu fällt mir immer wieder mein Zustand während meines Reporterdaseins bei der GAZ ein. So unzulänglich, unbedeutend, ja wohl manchmal lächerlich meine Arbeit damals war, ich empfand sie aber als „produktiv“ und „schöpferisch“, und ich entsinne mich nicht, zwischen 1967 und 1971 mit der Zeit nichts anzufangen gewußt zu haben. Dazu kam natürlich noch das wiederaufgenommene Studium mit der Unsicherheit seines Ausgangs, der Beginn meines Verhältnisses zu G. und die damit verbundenen Schwierigkeit. Es war eine Zeit kräftigen Lebens – ich konnte gar nicht viel über meine Zustände herumsinnieren. Und jetzt? Ich befinde mich auf einer Reise, die ich, statt sie zu nutzen und auszukosten, am liebsten abbrechen würde. Mir bieten sich, gemessen an meiner „Finanzkraft“, Möglichkeiten, Reiseträume vergangener Jahre zu verwirklichen, aber ich drücke mich lieber davor und ziehe es vor, über mein angeblich sinnloses Dasein herumzuphilosophieren. Was Träger, willst du eigentlich? Zu Ulrike sagte ich kürzlich, daß ich mir vorgenommen habe, im Öffentlichen Gesundheitsdienst Karriere zu machen. Aber schon melden sich andere Ansprüche. Öffentlicher Gesundheitsdienst – das klingt mir plötzlich nicht „abenteuerlich“ genug, da werde ich nicht über Andenpässe fahren, mit Flugzeugen in fremden Städten landen können, da werden sich mir nicht die Türen der gastlichen Hotels fremder Länder öffnen. In Kolumbien habe ich beobachtet, daß mir ein gehöriger Teil meiner jugendlichen Reiselust zusammengeschmolzen ist zu einer kleinmütigen Freude am Neuen, die ich so intensiv gar nicht mehr genießen kann. Was soll ich von alle dem halten? Der Sechsunddreißigjährige in der Krise? – Ich liege am Rande eines Weges, der durch einen großen Friedhof führt. Doch diesem Friedhof fehlt die Feierlichkeit und Strenge unserer Friedhöfe. Auf den ersten Blick glaubt man, in einen großen Park zu kommen, gepflegter Rasen und zahlreiche verschiedenartige Laubbäume. Da sieht man zwar Vasen mit Blumen, unregelmäßig verstreut aufgestellt. Verläßt man aber den Wege, sieht man sie, die in Aufmachung und Größe meist sehr ähnlichen Bronzeplatten in die Erde eingelassen, in gleichem Niveau wie die Rasenfläche. Es sind viele Gräber für Ehepaare, von denen ein Teil noch lebt, der Name und das Geburtsjahr schon aufgeführt. „Together forever“ kann man da lesen. Ein Friedhof, der in die kultivierte Natur einbezogen ist, die Anonymität der kommenden Ewigkeit schon vorausnehmend. Die Gräber schon jetzt der Erde gleich, die die Toten einverleibt für immer.

Samstag, 17. Mai: Gestern Abend waren wir Gäste eines Kollegen Todd’s namens Steve (Dall, eigens Foto rechts), angeblich ein Verwandter Eleonore Roosevelts und nebenberuflich Model für Herrenbekleidung, Latein- und Deutschlehrer, mit einem erbärmlichen Deutsch. Er lebt in einem alten Bauernhaus, das recht stilvoll mit altem Ramsch ausgestattet ist, in einer Ecke des Wohnzimmers sogar eine Harfe. Die Party war von Lehrern besucht, ein Franzose mit seiner franz. Frau, ein Spanier (Rafael Laserna, + 1996 mit 56 Jahren, auf dem eigenen Foto 2. von rechts), Leiter der Fremdsprachenabteilung der Haverford School, mit seiner amerikanischen Frau, eine Lehrerin (BJ, auf dem Foto ganz rechts), die Steve „nur so“ eingeladen hat (und auf die ich ein bißchen Appetit bekam, ohne etwas zu unternehmen aus Vorsicht und letzten Endes doch Lustlosigkeit). Wir tranken viel Wein, es gab Käse, Gitarrenklänge. Angenehme Atmosphäre unter geltungsbedürftigen Typen.

Sonntag, 18. Mai: Gestern Abend ging ich mit Todd in ein „Adult Cinema“, um mir einen jener „harten“ Pornofilme anzusehen, die bei uns öffentlich noch nicht gezeigt werden dürfen. So ganz unberührt haben mich diese Fick-Szenen doch nicht gelassen. Überhaupt rühren sich in mir wieder allmählich Bedürfnisse, die ich bisher ignorieren, unterdrücken oder bagatellisieren konnte. Vielleicht hätte ich die kleine Chance vom Freitag doch erproben sollen. – Man muß auf die Menschen hier wie ein seltenes Tier wirken, wenn man von ihnen als Fußgänger in freier Landschaft gesehen wird. Auf meiner wohl knapp einstündigen Wanderung bin ich keinem Menschen begegnet, der sich nicht in unmittelbarer Nähe eins Hauses aufgehalten hätte. Mit neugierig-mißtrauischen Blicken wird der Fremde gemustert. Daß er nicht auch in einem Wagen sitzt und gar allein herumstreift muß, diesen Menschen so fremd vorkommen, daß man sich selbst plötzlich allein und schutzlos einer scheinbar menschenleeren Kulturwüste ausgesetzt fühlt. Ihren Spuren begegnet man auf Schritt und Tritt, diesen Automenschen mit ihren halben Körpern, die Straßenränder und angrenzenden Rasen sind verunziert mit geleerten Getränke-Büchsen, aus denen sie ihren Durst stillen, weil sogar das Wasser aus den Hähnen so denaturiert ist wie die Landschaft selbst, hinter deren Mauern aus Holz, Disteln, Ziersträuchern, Glas und Blech sie sich verstecken. Diesem Leben hier fehlt die Vitalität der Armut, die Lust an der Bewegung der Gliedmaßen, statt dessen ahnt man die Langeweile, der man bevorzugt auf Rädern zu entrinnen sucht oder die man hinterm Fernsehapparat verdöst.

Dienstag, 20. Mai: Gestern ein 3stündiger Trip zuerst in Richtung Valley Forge, ein historischer Platz im Zusammenhang mit den Kämpfen gegen die Engländer, den ich allerdings nicht ganz erreichte. An einer Straße, die an einem Golfplatz entlang führt, suchte ein alter Mann verschlagene Golfbälle. Es ging über kurz geschnittenen Rasen immer diese verkehrsreiche Straße entlang bis zu einem Riesengebäude der „American Baptists“. Zwischen diesem Gebäude und einem Hotel bog ich ab, um wieder nach Kingof Prussia zurückzukehren, vorbei an Bürokomplexen, Fabrikanlagen, Stapelhäusern. Endpunkt: das Einkaufszentrum des Ortes. Ich kaufte ein paar Eßwaren, Wurst, Cottage Cheese, Sauerkraut, Cereal. – Todd und Linda sind abends immer so geschafft, daß sie nur Interesse für das tv zeigen. Todd muß hart arbeiten, oder besser: er tut es, weil er seine Sache perfekt machen will. Seit gestern steht ein neuer Flugtermin fest.

Mittwoch, 21. Mai: Ich versuche alles, meinen Aufenthalt hier abzukürzen. Es reicht, auch wenn es mir an nichts mangelt und keine Störung unser Verhältnis trübt. Ich lese fleißig, seit gestern „Homo Faber“ von Max Frisch. Linda und ich waren gestern Abend noch auf einem Einkaufsbummel. Diese Einrichtung, abends die Geschäfte offen zu halten, empfinde ich so angenehm und entspannend. Ich kaufte zwei weiße Hemden mit kurzen Ärmeln und dem Aufdruck „imperfect“, dafür nur 4 statt 7 Dollar.
Wenige Minuten, nachdem ich von einem morgendlichen Lauf zurückgekommen war, zog von Norden kommend ein Gewitter auf und in dessen Gefolge ein schöner Regen. Trotz Wettervorhersage, wonach nur mit 20 Prozent (mit) Regen zu rechnen sei. Gestern Abend, im Bett, überkam mich das Bedürfnis, an G. zu schreiben. Wie würde sie wohl reagieren? Über meine Trennung von ihr bin ich erleichtert, aber mein Gefühl der Sympathie und Zuneigung ihr gegenüber ist noch lebendig, wieder lebendig, muß ich sagen und nicht zum geringsten als Folge der Trennung, meine ich. Erleichterung, ebenfalls gestern empfunden, aber besonders über meine Distanzierung von I. Eine „innere“ Abwendung? Ich wünschte es mir wirklich, denn ihren subtilen Quälereien bin ich nicht gewachsen, mich ihnen auszusetzen, empfinde ich als demütigend. – Dieser Genuß beim Lesen der Sätze von Joseph Roth („Der stumme Prophet“)!
Unruhe überkommt mich wieder. Da ist wieder das Bild von mir des vagierenden Informationssammlers, hin- und herschwingend zwischen schweißtreibendem, pulsfrequenzerhöhendem Lauern auf die Worte, Neuigkeiten, Lügen und Wahrheiten der Macher, Organisatoren, Intriganten, und der entspannenden Hingabe an die Pausen, die ich an fremden Flußufern, Innenhöfen, Hotelzimmern verbringen kann. Gleichmäßigkeit erschreckt mich, weil sie die Unruhe des Lebens zu verhindern trachtet. Leben ohne Unruhe, ohne die Spannung zwischen Begehren, Entzug und Erhalt, das ist schon ein vorweggenommenes Nichtsein, Aufhebung der Existenz, Langeweile. Zuschauen, interpretieren, beschreiben, dokumentieren, daraus empfange ich meine Lust, damit kann ich umgehen, daraus Selbstvertrauen und Stärke gewinnen.
Als Todd heute nachhause kam, berichtete er, daß jene BJ von Steve’s Party Kontakt mit ihm aufnehmen wolle. Ich wurde plötzlich unruhig. Eine „Chance“ für mich? Sie hat mir gefallen, aber ich hatte kein starkes Bedürfnis nach neuen Begegnungen. Ich bat Linda anzurufen. Sie, nicht zuhause, rief zurück. Ich hätte Lust, mit ihr das Wochenende zu verbringen statt nach Sunderland zu fahren. – Ich bestellte „National Geographic“ (das ich dann auch einige Jahre im Abonnement bezog).

Donnerstag, 23. Mai: Ich bin auf die Begegnung mit BJ gespannt. Todd und Linda gegenüber halte ich es für ganz sicher, daß ich die Angelegenheit I. überwunden habe. Ich lese „Mein Name sei Gantenbein“ von Max Frisch. Ein Abklatsch von Saul Bellows „Herzog“ (den ich nur angelesen habe). Gestern bin ich wieder gelaufen, bei feuchter Hitze ohne dabei allzu sehr belästigt zu werden (mit Ausnahme eines Hundes, der mich in der Church Road anbellte). Wohlbefinden, seelisch und körperlich. Zu BJ: Sie rief gestern an und erkundigte sich nach meinem Abfahrtstermin, Einladung, sie kommende Woche zu besuchen.
Sunderland, Mass. (Lindas Heimatort, wohin wir mit dem Auto fuhren). Es geht auf Mitternacht zu; 6 ½ Stunden brauchten wir. Ich tue eben einfach so, als ob ich dazu gehörte. Samstag, 24. Mai: Sunderland. Herrliche Hitze. Einen morgendlichen Lauf hinter mir, sicherlich um die 4 Kilometer. Morgens im Bett höchstes Wohlbefinden, Gefühl des Befreitseins. Vormittags mit L. und T. in Greenfield , nachmittags mit den beiden in Northampton, um ein Lecross-Spiel (ein Mannschaftsspiel angeblich indianischen Ursprungs) anzusehen. Mit Charles u. Julia (Onkel und Tante Lindas, mir bereits von meinem ersten Aufenthalt 1972 bekannt) zurück.

Montag, 26. Mai: Nach fast 6stündiger Fahrt kommen wir gegen ½ 2 zurück aus Sunderland. Ich habe leichte Kopfschmerzen. Todds Kleinlichkeit geht mir auf die Nerven. Ich lese wieder, diesmal „Jugend ohne Gott“ von Ödön von Horváth. Abends mit BJ im Valley Forge Park. Gemeinsames Abendessen (rechts eigenes Foto mit dem Autor und BJ in King of Prussia). Dienstag, 28. Mai: King of Prussia Plaza. Ich warte hier auf BJ. Keine Gedanken, keine Bedürfnisse. Auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für (meine Nichte) Christine. Mit BJ in Plymouth und Bridgeport

Donnerstag, 30. Mai: Den gestrigen Vormittag verbrachte ich im Court House der nahen Stadt Norristown (vermittelt durch BJ). Dort sind 11 Richter tätig, nur einer davon auf bestimmte Fälle spezialisiert. Zivil- und Strafsachen werden an diesen kleineren Gerichten von allen Richtern behandelt, und zwar in aufeinanderfolgenden Sitzungsperioden. Einen der Richter lernte ich durch seinen „Clerk“, der mir als Führer diente, kennen, ich hielt mich auch kurz in dessen Dienstzimmer auf. Der „Clerk“ ist ein junger Absolvent einer „Law School“, der am Gericht eine Art Referendariatszeit ableisten muß, ohne daß danach noch ein Examen auf ihn wartet. Ich sah die Gerichtssäle, die moderneren und einen älteren, der jenem glich, die aus Filmen bekannt sind. Mein Cicerone (Jim Beam, ebenfalls einer der Gäst bei Steve Dall) zeigte mir die Bibliothek, wo er den größten Teil seiner Arbeitszeit verbringt, um die Urteilsbegründung seines Richters, die meist nur aus ein paar Sätzen bestehen, in eine vollständigere Form zu bringen, was für ihn Nachschlagen und Literaturlesen bedeutet. Im Saal, wo sich die Anwälte treffen, begegneten wir einem anderen Clerk, den ich ebenfalls am Tag vorher in Bridgeport kennengelernt hatte. Anschließend erlebte ich zwei Verhandlungen, eine gegen einen 18jährigen, der aus einem Gefängnis vorgeführt wurde, wo er wegen „Diebstahl von beweglichen Gütern“ eine Strafe von „2 bis 4 Jahren“ abzusitzen hat. Diesmal ging es um „resisting“ während einer Festnahme wegen Trunkenheit am Steuer. Den Urteilsspruch des Richters habe ich nicht verstanden (es war ein Geschworenengericht). Beim zweiten Fall ging es um den Diebstahl eines Fernsehers. Der 22jährige „defendant“ gehörte zu jener Sorte „primitiver“ Krimineller, die nach meiner Vorstellung Diebereien begehen, deren Ausmaß in keinem Verhältnis steht zu der zu erwartenden Strafe. Auch er wurde aus einem Gefängnis vorgeführt. Anschließend fuhr ich per Bus zum King of Prussia Plaza, traf mich hier mit BJ und fuhr mit ihr nach Philadelphia, wo wir von der Independance Hall aus zu Old Ph. wanderten, dort eine Truppe Schauspieler antrafen, die in historischen Kostümen am Headhouse Square herumsaßen und –lagen und auf ihren Einsatz zu Filmaufnahmen warteten. In diesem Teil Ph.‘s wurden Appartement-Häuser aus Backsteinen gebaut, alte Wohngebäude konserviert (und gelegentlich sogar zum Kauf angeboten). Anschließend bei Gimbel, wo ich mir eine weite Hose kaufte, dann zu BG’s Haus in Narbarth, ein Traumhaus (aber auch nur gemietet) in der Main Line. - Party bei BJ

Freitag, 31. Mai: New York, JFK-Airport. Ein wenig erleichtert nahm ich Abschied in Kingswood. Gestern erlebte ich eine ganz unterhaltsame Party, veranstaltet von BJ in deren Haus. Gäste u. a. Jim Beam, mein Cicerone durch das Gericht von Norristown, und seine Frau, ein deutschstämmiger Lehrer namens Michael und seine Frau, eine Schwedin, Lehrerin in King of Prussia, und deren Mann, ein Architekt. Ich beging die Dummheit und trank zuviel von einem billigen kalifornischen Rotwein, worunter ich heute noch zu leiden habe. Es geht auf 10 Uhr zu, ich bin müde und sitze im Warteraum der Loftleidir, wo es wie in einem Feldlager aussieht. Ich denke an nichts, gelegentlich wieder an I., mit einem kleinen Stich ins Wehmütige, als sei diese Geschichte einfach erfunden. Das hat diese Reise bewirkt, und das wirkt beruhigend auf mein Gemüt. Überhaupt: den Dingen und Menschen nicht so viel Bedeutung beimessen. Das Alleinsein tut mir wieder gut. Was nicht heißen soll, daß ich die Begegnungen der letzten Tage nicht genossen hätte (Ende der Notizen über meine 3. USA-Reise).

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