Sonntag, 28. Dezember 2008

1970 und 1973: Türkei

1970

1. Türkeireise

Ziel dieser ersten Türkeireise war Izmir, wo wir die Cousine meiner Freundin und Studienkollegin Gertrud und deren Ehemann Franz L. besuchen wollten. Mit dem Zug nach Venedig, dort in der Jugendherberge auf La Giudecca übernachtet. Am Abend war während eines Unwetter, das wir durch das Fenster der Herberge als schweres Gewitter erlebten, ein Fährboot gekentert, wobei nach einem Zeitungsbericht 22 Personen ertrunken sind. Mit den Lippolds bereisten wir die Türkei, den Westen mit Ephesus und Pamukkale, den Süden mit Antalya, das Zentrum mit Konya und Afyon und der Ausgrabungsstätte Çatal Höyk und schließlich noch Pergamon. Auf der Rückreise besuchten wir Instanbul und fuhren von dort aus per Bahn wieder nach Deutschland zurück.

Samstag, 12. September: Venedig. Um 14.30 Start mit dem Passagierschiff „Truva“. Preis: 94 US-Dollar pro Person. Ankunft in Izmir am folgenden Nachmittag.

Nach einigen Tagen der Eingewöhnung in das türkische Milieu starteten wir zu einer Autoreise zunächst nach Ephesus, von dort nach Pamukkale, an die türkische Südküsteund von hier aus ins Innere des Landes bis Konya, von wo aus wir wieder westwärts fuhren. Im Folgenden einige Fotos von dieser Reise:


Baumwollernte in der Südtürkei








Dienstag, 6. Oktober:
Die Eindrücke, die ich hier in der Türkei von verschiedenen Seiten erfahre, sind recht vielfältig (links eigenes Foto, das Haus, in dem unsere Gastgeber im Stadtteil Göztepe im obersten Stock rechts wohnten). Das gesellschaftliche Leben der Deutschen („kolonial“): Türkenmann und deutsche Frau. Die türkische Oberschicht und ihre Tätigkeit (Mehmet Tatari – ein Unternehmer, den Gertrud auf der Truva kennengelernt hat). Die Zerstörung einer Kolonie aus der „Griechenzeit“, von ihr stammen die Vorstadtvillen, die sich in Izmir gegen Westen den Küstenstreifen entlang ziehen. Die Kultur, ausgedrückt in einem „ästhetischen Baustil“ weicht dem Profitstreben cleverer Architekten und Bauunternehmer - oft beides in einer Person. Auf den Villengrundstücken schießen 8-10stöckige Hochhäuser in den Himmel mit Eigentumswohnungen, die sich nur wohlhabende Türken leisten können. Gebaut werden sie von Tagelöhnern, deren Geschickteste 40 bis 60 Lira = 10 bis 15 Mark pro Tag bekommen. Die Handlanger müssen sich mit 20 Lira zufrieden geben. Die Kaufkraft der Lira ist schwer abschätzbar. Das Kilo Trauben 1,25 bis 1,50 Lira, ein Weißbrot 80 Kuruș, Fleisch 15 Lira das Kilo, Obus 50 Kuruș, Dolmuș (eine Art Sammeltaxi, das auf Wunsch anhält) 75 Kurus. Ein Restaurantessen zum Sattwerden 6 Lira. Aus welchen Berufsgruppen die „Wohlhabenden“ stammen, solche also, die Mieten bis 1000 Lira bezahlen können, ist mir noch nicht ganz klar. Privatautos stellen, gemessen an der Zahl der „öffentlichen“ Wagen wie Taxis u. Dolmuș, noch Raritäten dar. Selbst produziert wird ein 4-Sitzer Anadoul von einem Unternehmer namens Koç, der – nach unsicherer Information – starken Einfluß auf das Leben des Landes hat. - Ein 30jähriger Architekt sagt voraus, daß in 5 Jahren die Türkei ein neues Vietnam werden könnte. Die Vorbereitungen dazu würden heute schon getroffen. Sozialisten und Kommunisten würden in die Universiät eingeschleust, sie besäßen Waffen. Er selbst, obwohl Unternehmer und zur höheren Schicht des Landes gehörend, sei für den Sozialismus in der Türkei, da nur er das Elend hier beseitigen könne. Seine Feinde: Amerikaner. Aber auch Juden, die über Amerikaner großen Einfluß hätten. Der Antisemitismus scheint zum guten Ton der „Intellektuellen“ zu gehören. Selbst unfähig, das Sakrileg zu begehen und die Ursache der türkischen Misere der eigenen Trägheit zuzuschreiben, wird mit den Juden ein Sündenbock aufgebaut.

Mittwoch, 7. Oktober: Besuch bei einem Zahnarzt (der in Deutschland studiert hat) und seiner deutschen Frau (Bekannte unserer Gastgeber): Der türkische Zahnarzt kann nur Privatpatienten behandeln. Die Sozialversicherten lassen sich ihre Zähne im Krankenhaus ziehen, wo sich eine Zahnstation befindet. Der Zahnersatz wird nicht von der Versicherung bezahlt. Beamte, Lehrer, Bankangestellte, für die es Vertragsärzte gibt, können sich allerdings ihren Arzt selbst aussuchen. Der Versicherungsträger zahlt den üblichen Betrag, der einem Vertragsarzt gezahlt würde, der Rest muß selbst getragen werden. Es gebe nichts für die Ausrüstung der Praxis, er müsse es in Deutschland beziehen. Er braucht Devisen, die kontingentiert sind. Zahntechniker empfindet er als starke Konkurrenz. Obwohl sie nur Gebisse anfertigen dürfen, lassen sich selbst wohlhabende Leute ihre Zähne bei ihnen ziehen, illegal. Er müsse dann die Schäden, wie steckengebliebene Wurzeln, wieder beseitigen. Die Zähne für die Gebisse? „Das ist das einzige, was es hier gibt“. Aber er stelle sie – wenn auch sehr ungern – selbst her. Seine Frau will sich offenbar nicht anpassen und eckt daher überall an. Die türkische Intelligenz, die im Ausland ausgebildet würde, ist eher eine Belastung für das Land. - Am Abend erfahren, daß beide in wenigen Wochen nach Deutschland wollen.

Sonntag, 11. Oktober: Asklepion. Dr. Ziegenaus (nach dem Besuch von Pergamon, wohin wir zusammen mit den L.s und einem ihrer Bekannten gefahren waren).

Montag, 12. Oktober: Flug von Izmir nach Istanbul. So sehr mich die Idee gereizt hatte, diesen Weg mit dem Flugzeug zu überwinden, so sehr wußte ich auch von der Furcht davor. Das Erlebnis beschäftigte mich schon Tage vorher. In einem Auto zu fahren, ist uns so gewöhnlich geworden, daß wir nicht wirklich ernsthaft daran glauben können, getötet zu werden. Ein Unfall, ja, aber dabei muß man nicht gleich umkommen. Die Unerbittlichkeit der Folgen eines Flugzeugabsturzes ist viel offensichtlicher, als daß es nicht beunruhigen würde. Der Ausgang eines solchen Unfalles ist so gut wie immer letal, die Auslieferung an das Material der Maschine und das Können der Piloten hat einen um das vielfache verbindlicheren Charakter als sich einer Autofahrt auszusetzen.

Mittwoch, 14. Oktober: 17.00 (per Bahn) Istanbul ab. - 15. Oktober: 10 Uhr Sofia, 18 Uhr OEZ Belgrad, 23.30 OEZ Zagreb. - 16. Oktober: 5.15 OEZ österr.-jugoslaw. Grenze (Rosenbach). 9.45 MEZ Salzburg. München an 12 Uhr.

Epilog

Samstag, 24. Oktober: Eine lange, abwechslungsreiche und informative Reise liegt hinter mir. Doch von dieser Fahrt in die Türkei existieren so gut wie keine Notizen. Ich schrieb nichts (was, siehe oben, nicht ganz stimmte), ich schaute nur und genoß die kostbaren Augenblicke. Dafür fotografierte ich um so fleißiger (wie diesen Kalkbrenner nahe der Mittelmeerküste bei Silifke). Eigentlich wollte ich nur einen Satz notieren, etwa so: „Ich hasse die Mittelmäßigkeit, weil ich selbst mittelmäßig bin“. Aber wozu diese Selbstbespiegelung? In all den Jahren, da ich sie praktizierte, hat sich nichts so verändert, daß ich von einem Erfolg der „Analysen“ sprechen könnte. Viel klüger bin ich nicht geworden. Und wenn ich an die vagen Pläne meiner Jugend denke, welche Teile verstand ich schon zu verwirklichen? Das Leben ist Frustration, ich glaube selbst dann, wenn es „erfolgreich“ im bürgerlich-abendländischen Verständnis verläuft. Ich brauche mir nur vorzustellen, daß ich etwa ein paar Bücher geschrieben hätte, wie ich’s einst erträumte. Ich würde ein paar mehr Leute kennen, die mich langweilen würden. Je „weiser“ ich werde, was soviel heißt wie: je suspekter mir Begriffe wie Ehrgeiz, Fleiß, Fortkommen und Ansehen werden, um so unwirklicher erscheint mir „das Leben“.


1973

2. Türkeireise

Auch diese Reise - jetzt mit Gertrud als meine Ehefrau - galt wieder einem Besuch der Familie L. in Izmir. Doch sie verlief nicht wie gewünscht. Franz L., der Türkinnen zu Lehrerinnen ausbilden sollte, hatte bereits bei unserer Ankunft behördliche Schwierigkeiten mit seinem neuen VW-Bus, mit dem er kurz zuvor von Hamburg aus ins Land gekommen war. Das Fahrzeug sei für eine Dauer-Fahrerlaubnis im Land ein paar Zentimeter zu lang (oder so ähnlich). Das veranlasste die Familie L. nach zahlreichen aufreibenden und am Ende doch vergeblichen Behördengängen zur Rückfahrt nach Hamburg, der wir uns natürlich anschlossen. Es wurde eine Reise durch den mir bis dahin unbekannten Balkan.

25. August: 14 Uhr mit Zug nach Frankfurt - Stuttgart - München (Umstieg in Liegewagen) - österr./jugosl. Grenze - 26. August: Belgrad - Jugosl./griech. Grenze - 27. August: Saloniki - Larissa - Ankunft Athen, Larissa Bahnhof 17 h OEZ. Hotel „Safos“. - 28. August: Morgens ins Zentrum von Athen - Akropolis, Lykabettos-Berg. - 29. August: Athen - Keremeikos (alter Friedhof), Dipylon, Pompeion besichtigt. Zum Philopappos-Denkmal, Olymieon. - 30. August: Morgens mit U-Bahn nach Piräus. Um 16 h OEZ Einschiffung „Aeolis“ (2-Bett-Kabine). Gegen 19 h Abfahrt. - 31. August: Gegen 5.30 Ankunft im Hafen von Chios. Um 10 h mit Boot nach Çesme in der Türkei. Ankunft um 12 h türkischer Zeit (2 St. später als MEZ). Nach Ankunft in Çesme Busfahrt nach Izmir (80 km pro Person 6 Lira = 1,20 DM). Am späten Nachmittag Fahrt mit VW-Bus zu Herrn Klaeren etwa 40 km westlich der Stadt, wo dieser ein 2-stöckiges Landhaus unmittelbar am Meeresstrand besitzt. Landerwerb nur 30 km um Izmir unbeschränkt möglich, somit Kauf über Strohmänner (Klaeren). Er ist seit 20 Jahren in Izmir und kauft Tabakernten auf, verarbeitet den Tabak (Manipulation) und verkauft ihn wohl an die Zigarettenindustrie. Dabei muß er reich geworden sein, nach Christa steht er in der jährlich veröffentlichten Steuerliste Izmirs an 5. Stelle (2 Millionen Steuern?). Abends Gespräch über Klaeren, das ich einleitete. Lippolds seit etwa 1 Jahr mit der Familie befreundet. Keine Interessenkonkurrenz. Er sei sehr reserviert im Umgang mit Fremden, da immer auf der Hut vor Ansprüchen. K. erzählt die Geschichte seines türkischen Obstlieferanten, dessen Sohn kürzlich erschlagen wurde: der Bursche sei mit einem anderen und zwei Mädchen auf einer Bootsfahrt zu einer Insel gewesen. Ihn habe der Mut verlassen, der andere ihn Feigling genannt. Der so titulierte habe das Messer gezückt und den Beleidiger schwer verletzt. Im Dorf sei ein Verwandter des Verletzten aufgehetzt worden, der losgezogen sei und den Messerstecher mit einer Eisenstange erschlagen habe. Die Blutrache sei weit verbreitet. Der Mord aus anderem Grunde als dem, irgendeine Ehre wiederherzustellen, sei fast unbekannt. Christa erzählt eine Zeitungsnotiz, wonach kürzlich ein Vater seine 18jährige Tochter erschossen habe. Die Tochter sei - landesüblich - von einem Jungen entführt worden, weil er sie heiraten wollte. Am nächsten Tag hatte die Familie des Entführers das Mädchen wieder zum Vater zurückgeschickt; ohne Begründung. Jedesmal jedoch, wenn Sohn und Vater dem Mädchenvater auf der Straße begegnet seien, hätten sie auf eine bestimmte Art gelächelt, so als hätte sich für sie herausgestellt, daß das entführte Mädchen nicht mehr jungfräulich gewesen sei. Das habe der Mann nicht ertragen und beschlossen, erst die Tochter, dann die beiden zu töten. Eines Nachts habe er die Tochter geweckt unter dem Vorwand, mit ihr Ähren lesen gehen zu wollen. Sie erbat sich Zeit zum Beten. Dann erschossen. In der Folgzeit hatte der Mann keine Gelegenheit, die beiden anderen zu töten. Erst nach einiger Zeit sei das Verbrechen aufgedeckt worden.

3. September: Izmir - Den Sonntag, gestern, verbrachten wir wieder in Çesmealti bei Klaerens Haus am Meer (Foto, aufgenommen in Çesme, ganz links Harald Klaeren, davor Jens L., daneben dessen Eltern Christa und Franz L. sowie ganz rechts der Autor). Anwesend außer uns waren noch Ziya (Bei) Bilgin und dessen deutsche, aus Paderborn stammende Frau Henny. Bilgin ist mir von einem Aufenthalt bei der Familie Günther F. vor drei Jahren bekannt. Er ist Architekt und arbeitet als wissenschaftlicher Assistent an der hiesigen Universität. Nebenbei versucht er sich als freier Architekt zu betätigen, nach Lippolds Angaben ziemlich glücklos, da ihm der hierfür notwendige Geschäftssinn fehle (in der Türkei sei das Architektenhonorar nicht von der Größe des Projektes abhängig). - Dolce vita in Çesmealti mit Baden, gutem Essen (Rindfleischsuppe, Köfte mit Kartoffelsalat und Bohnen-Karottengemüse, gegrilltes Fleisch/-Pudding mit Vanillesoße - abends noch Melone mit Feigen) und Gesprächen. Bilgins Frau, eine künstliche Blondine, wirkt auf mich sehr attraktiv. Sie gibt in der deutschen Bibliothek zweimal wöchentlich Deutschunterricht. Klaeren berichtete, wie er seine Angestellten behandelt, nachdem Franz Lippold behauptete, er verstünde es ausgezeichnet, mit Türken umzugehen. - Heute Besuch in Klaerens Büro in seinem Haus, wo auch die Deutsche Bibliothek untergebracht ist. Besichtigung eines Fermentationsraumes (von 6), wo hunderte von Ballen Tabak behandelt werden. Im Januar wird die Ernte gekauft, anschließend Manipulation, d. h. Auswahl der Blätter nach Qualität, heute mit Hilfe von Maschinen und 400 Türkinnen in einem Zeitraum von etwa 2 ½ Monaten, früher 2000 Arbeiterinnen, die pro Tag etwa 5 kg Tabak sortierten. Heute sei die Produktivität dank der auch von ihm, Klaeren, entwckelten Maschinen wesentlich größer. Nach der Manipulation Fermentation in eigenen und angemieteten Räumen. Die Fermentation könne erst mit Beginn der warmen Jahreszeit einsetzen und dauert mehrere Monate. Danach Verschiffung im November. Gegen Feuer, aber nicht gegen Wasser versichert. 1 Ballen ist etwa 160 Dollar wert (?).

4. September: Die Weintrauben kosten hier 5 bis 6 ½ Lira, auch Pfirsiche in dieser Preislage. Die Lira ist knapp 20 Pfennige wert. Die Fahrt im Dolmuș von Konak nach Balcova kostet immer noch 75 Kuruș. Für ein Essen - Döner kebab mit Yoghurt - zahlten wir 650 Kuruș. Ein Efes-Bier beim Kaufmann 150 Kuruș. Für uns ist die Türkei ein Niedrig-Preis-Land. Für die Türken wohl nicht. Das sagte auch ein Lehrer namens Hayrettin Seyhan, den ich gestern traf. Interessant für mich wäre es, Näheres über die hier wirksamen Herrschaftsstrukturen zu erfahren. Ich höre von Christa manches darüber, vor allem über die Stellung des Mannes innerhalb der Familie. Er muß immer seine „Männlichkeit“ beweisen, weniger wohl im Sinne sexueller Überlegenheit als vielmehr in Form patriarchaischen Beherrschens und Schützens seiner Familie. Da dieser Status ständig durch die widrigen wirtschaftlichen Umstände gefährdet sei, entwickele der Türke ein Verhalten, das Christa mit dem Wort „Anmaßung“ belegte, was aber wohl anders verstanden werden muß als unsere Vorstellung von Anmaßung. Der Türke muß, um die Fassade seines patriarchaischen Herrschaftanspruch wahren zu könne, renommieren, also den Mangel an wirklichem Wert - ausgedrückt etwa in materiellen Gütern - durch vorgegebene Werte ausgleichen. Wenn er selbst nicht wohlhabend ist, so hat er eben einen wohlhabenden Großvater. So jedenfalls der Türke aus Christas Sicht. Auch eine Art Kastenwesen verhindert eine Durchgängigkeit der Gesellschaft. Ein Bauernsohn wird von einer bürgerlich-städtischen Familie kaum als Ehemann akzeptiert, auch wenn er selbst schon zur gebildeten Schicht gehört. Eine Erklärung: daß die Mitglieder der gebildeten Familie nicht mit den bäuerlichen Eltern umgehen können. Das ist aber wohl die oberflächlichste Erklärung. - In den Wohngebieten unterhalb der Izmirer Burg: Die Bauweise der Häuser, ein-, höchstens zweistöckig mit tiefen Dielen, die sich nach Innenhöfen zu öffnen, diese wiederum von niedren Bäumen beschattet, vermitteln den Eindruck, der bei uns mit dem Schlagwort vom „humanen Wohnen“ bezeichnet wird. Die Straßen, Winkel und Treppen außerhalb der Häuser sind nicht sauber nach europ. Vorstellung, sie zeigen aber keineswegs die Verrottetheit bekannter Slumlandschaften. Die Frauen, häufig in typisch türkischer Bekleidung, sitzen in den Häusern und beschäftigen sich mit Näharbeiten, um sie herum die halbwüchsigen Mädchen und die kleinen Kinder. Die Versorgung mit Lebensmitteln liegt in Händen kleiner, oft winziger Läden, aber auch „fliegende Händler“ dürften hier ihr Gechäft machen. Von hier mögen sich die armen Straßenhändler der Unterstadt rekrutieren, die Busschaffner, Schuhmacher, Polizisten. Ich habe in einer versteckten Lokanta im Bazar gegegessen. Viel Öl und wenig Substanz. Der blanke Reis war der beste Teil davon. Daß dafür auch ein Türke 10 Lira zahlen muß, hat etwas Ärgerliches an sich. Aber man kann auch im Bazar besser essen. Ein Cay, ein guter Tee aus einem kleinen Glas kostet am Meer, wo ich jetzt sitze (am Konak, dem Uhrenplatz), 150 Kuruș. Eine an sich überflüssige Feststellung: nicht alle Türken sehen wie Türken aus. Ich wüßte gerne etwas über die Izmirer Kriminalstatistik, über das Einkommen eines Arztes, eines Handwerkers, eines Kellners, eines Journalisten. Genieße das Alleinsein. - Begegnung in Lippolds Wohnung mit einem Türken, der in der Gewerkschaft Textil u. Bekleidung in der BRD als Funktionär tätig ist. Ein Mann, dessen Familie aus Thessaloniki stammt und im Zuge der „Repatriierung“ nach dem türk.-griech. Krieg in die Türkei kam. er ist gelernter Schneider mit - nach seinen Angaben - Akademieerfahrung und hat in Deutschland zunächst als angelernter Arbeiter in der Textilbranche gearbeitet. Durch die Bekanntschaft mit einem Gewerkschaftfunktionär Zugang zur Gewerkschaft. Er berichtet von seiner Überanpassung an die deutschen Verhältnisse in der ersten Zeit seines D.-Aufenthaltes. Die Türken weigerten sich, diese Anpassung zu vollziehen, was zu den bekannten Konflikten führe. Der Zuhörer muß denEindruck gewinen, daß gerade seine Fähigkeit zur Anpassung zu einer Überlegenheitshaltung seinen Landsleuten gegenüber führt. Dieser Eindruck macht es schwer, seine Versicherung für glaubwürdig zu halten, er helfe sehr. Auf die Illegalen Angesprochen: „Sie sind selbst schuld“. Hilfe für sie wird zunächst abgelehnt, dann aber Möglichkeit angeführt. Er jedenfalls plädiert für Anpassung um jeden Preis und bringt auch Beispiele dafür, wie die Verweigerung der Anpassung dann zu Schwierigkeiten führt.

6. September: Gestern Abend Einladung zu Familie F., die ich noch vom letzten Aufenthalt kenne.

8. September: Am Abend des 6. waren wir im Mandya Bahcesi (M.-Palast) in der Fuar (Messegelände). Es traten Künstler von Bühne, Film und tv auf. Vor allem Schlager, aber auch klassische türkische Musik (die auf die arabische höfische Kunst zurückgeht) und ein bemerkenswerter Solovortrag eines Folkloresängers. Attraktion, mit dessen Namen die Vorstellung überschrieben war, sollte Zeki Müren, die „Sonne der türkischen Musikkunst“, sein. Wir begegneten ihm vor 3 Jahren in Side als Gast unseres Hotels, und schon damals erkannte man an den Reden über ihn, daß er ein berühmter Mann sein mußte. Er erschien mir (damals) ziemlich klein, dicklich mit Fettpolstern auf den Hüften und Plattfüßen. Er war von einer Schar junger Männer umgeben und belustigte sich bei Tisch über einen Zwerg, den er immer wieder zum Tanzen animierte, um sich daran zu ergötzen. Er ist nach Angabe Seyhans 37 Jahre alt, stammt aus Bursa, kam mit 18 oder 19 Jahren nach Istanbul, um dort Kunst zu studieren und wurde dort für die türkischen Musik als Sänger entdeckt. Seit dieser Zeit ist er der berühmteste zeitgenössische Sänger. Das scheint er auch jetzt noch zu sein, aber welch ein jämmerliches Bild eines Künstler bot er in Izmir! Daß er wie eine Tunte auf die Bühne tänzelte (vor eigenem Orchester), daß er auch Lieder aus eigener Produktion sang, daß er Kußhändchen ins Publikum warf, mochte man noch übersehen in Erwartung eines Mannes, der durch seine Stimme glänzen sollte. Als er jedoch begann, einen spanischen Schlager in einer weißen Latzhose und sonst nacktem Oberkörper vorzuhopsen, demonstrierte er, daß er künstlerisch am Ende sein mußte. Sein verzweifeltes Buhlen um die Gunst des Publikums erweckte wohl nicht einmal mehr Mitleid - angeblich gab es Gelächter aus dem Parkett. Wenn etwas als Entartung zu bezeichnen erlaubt ist, so die Erscheinung dieses immer noch hochberühmten Mannes. Von Gönnel, der Englischlehrerin (in unserer Begleitung), hörte ich ablehnende Bemerkungen zur klassischen türkischen Musik. Sie sei eine arabische Serailmusik, die eigentlich „nichts zu sagen“ habe im Gegensatz zur türkischen Folklore. - Gestern Abend wollte ich mit Jens Lippold als Dolmetscher jenen Sükrü Bayraktaroglu in der Hatay Cadden besuchen. Wir gerieten in das Sünnet duguni (Beschneidung) seines Sohnes. B. lud uns ein, der Zeremonie beizuwohnen. Ich hatte ihn während meiner MA-Zeit an der Med. Poliklinik als Patient kennengelernt.

10. September: Aufbruch um 12 Uhr zur Fahrt von Izmir in Richtung Çanakkale - 11. 9.: Nach Übernachtung auf Campingplatz (Gertrud und ich in einem Zimmer) von Çanakkale mit Fähre über die Dardanellen nach Kavala (Griechenland). Wir sind nach langer Fahrt im Hotel Neteli hier abgestiegen. Drei Möglichkeiten werden diskutiert: Entweder sie werden nach Hamburg fahren, den Wagen dort auf Kosten des Bundesverwaltungsamtes abstellen und mit einem „richtigen“ Auto wieder in die Türkei einreisen. Oder sie versuchen die Einreise über Bulgarien, was wegen einer Tierkrankheit teilweise geschlossener Grenzen fraglich ist. Oder sie versuchen es von einer griechischen Insel aus. Die letzten beiden Möglichkeiten lassen eine „Einfuhr“ des Autos nur als Touristen zu, was bedeuten würde, daß sie es nach 3 Montaen wieder aus- und wieder als Touristen einführen müßten. Wozu werden sie sich entscheiden? Sie entschieden, nach Deutschland zu fahren. - Die Abreise aus Izmir kam mir zu überraschend, da ich noch filmen wollte und noch eine 2. Lederjacke im Auge hatte.

12. September: Kavala - Thessaloniki (Aufenthalt) - Jugoslawien - Inex Hotel „Vardar“ Gevgelija - 13. 9.: Skopje -Wann war hier das verheerende Erdbeben? Im Juni 1963. An Spuren davon sieht man noch Risse in Hochhäusern und große freie Plätze, die vor dem Ereignis bebaut gewesen sein könnten. Jetzt befinden sich darauf Grünanlagen und Parks. Zahlreiche Moscheen erinnern an die Türkenzeit. - 14. September: Vor Dubrovnik - Wir fuhren heute von einem Ort Rozaje in Montenegro (eigenes Foto), hier übernachtet in einem neuen Hotel, nach Titograd und dann von dort hierher. 15. September: Boka Kotorska (Bucht von Kotor) Wir befinden uns in einer weit ins Land führenden Bucht des Meeres, an derem Ende die Stadt Kotor liegt (hier erfuhren wir über Radio vom Putsch gegen Allende in Chile). Das Gebirge fällt zu beiden Seiten steil ab, der schmale Uferstreifen ist mit Siedlungen bestückt, die architektonisch an Venedig erinnern, die Kirchtürme stark beeinflußt vom Campanile-Stil der Italiener, ebenso die massiven Wohnhäuser, von denen einige kleine zur Straße weisenden Balkone haben. Das sieht aus wie eine Mischung aus italienischer Riviera, Venedig und Fjordlandschaft. Die nördlichen Berghänge sind mit spärlichem Gebüsch bewachsen, das überall den grauen Fels erkennen läßt, während der Südhang, unterhalb dem wir uns befinden, von waldähnlichem Dickicht bedeckt ist. Die gestrige Fahrt von Titograd zur Küste führte zunächst durch einen verlandeten See, an dem man gut erkennen konnte, wie eine flache Ebene entsteht. Dann hatten wir einen Paß zu bewältigen, von dem aus es in grandiosen Serpentinen zur Küste ging. Der Kalkstein, aus dem das Gebirge besteht, zeigt an seiner Oberfläche skurile Formen. Besuche der Stadt Budvua, ebenfalls an Venedig erinnernd. - 16. September: Stano, Hotel Admira - Gestern innerhalb der vollständig erhaltenen Stadtmauern von Dubrovnik. Wieder der Eindruck, an einem Ableger Venedigs zu sein. Die Stadt ist aus weißem Kalkstein erbaut, hat schöne Plätze, glattgschliffene Straßen, Paläste, Kirchen und großzügige Wohnhäuser. Historisches konnte ich nicht erfahren (nachholen). Keine Autos in der Stadt! - 17. 9.: Sibenik, Campingplatz: Gestern Nachmittag in Split. Auf den ersten Blick eine übelriechende Hafenstadt mit einer zum Wasser hin liegenden palmenbestandenen Promenade, die an mondäne Zeiten erinnern könnte. Hinter der Promenadenfassade jedoch die Reste des Diokletian-Palastes, die als Elemente in spätere Bauten einbezogen wurden. Die überladene Ornamentik ist nur noch Schmuck um des Schmuckes willen oder weil den Erbauern nichts besseres mehr einfiel. Überhaupt wirkt die römische Formkunst nachgemacht und ihre Übernahme griechischer Ideen mußte wohl schließlich in eine Sackgasse führen. Inzwischen erfuhren wir durch Radio, daß auch die Grenzen zu Griechenland und der Türkei wegen der Maul-und-Klauenseuche völlig gesperrt sind, wir also vermutlich im letzten Augenblick von der Türkei über den Landweg ausreisen konnten. Die einzige Möglichkeit, von der Türkei über den Landweg nach Mitteleuropa zu kommen besteht darin, sich einem Konvoi durch Bulgarien anzuschließen. Kirschentheuer unterhalb des Loibl-Passes an der jugosl.-österr. Grenze (hier Übernachtung).

18. September: Ossiach, Stiftshotel - Heute Besichtigung Klagenfurts. Franz ließ Inspektion an seinem Bus machen, so daß uns viele Stunden „Freizeit“ blieben. Kühles, gegen Abend auch regnerisches Wetter. Turracher Höhe - Tauern Paß - 19. September: Ruhpolding, Gasthof Grashof - Nach einer geruhsamen Fahrt durch Kärnten, ein bißchen Steiermark u. Salzburg (nicht die Stadt) haben sich Lippolds für Ruhpolding entschieden. - 20. September: Ruhpolding - Fürth (in Frauenaurach Quelle-Fertighäuser besichtigt) - Würzburg - Marktheidenfeld (übernachtet) - 21. September: Ankunft in Krofdorf 13 h.

1 Kommentar:

  1. Lieber Siegfried! Jens hat am 22.10.2009 Dein Tagebuch im Netz entdeckt und uns die Adresse gemailt. Was waren wir damals jung! Und der Sohn ein Kind! Der liebe Harald Klaeren ist schon tot. Mit seiner Frau habe ich gerade telefoniert. Wir kommen gerade von Torun/Polen zurück - Familienforschung. Und Jens ist dienstlich in Poznan. Dir freundliche Grüße von Deinen Franz und Christa Lippold

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