Sonntag, 28. Dezember 2008

Böhmen, Mähren, Österreich 1964 und 1973


1964/1965


Prag

Im Wintersemester 1964/65 war ich an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt eingeschrieben und erfuhr hier von einer Reise des Allgemeinen Studentenauschusses (Asta) der Uni Mainz zum Jahreswechsel nach Prag. Zu dieser Zeit hatte ich gerade den Prager Schriftsteller und Journalisten Egon Erwin Kisch "entdeckt", wenngleich nur in Form einer sehr beschränkten Auswahl seiner Arbeiten, erschienen als Rowohlt-Taschenbuch. Ich war fasziniert von Kisch, und was lag da näher als das Angebot aus Mainz als Chance zu erkennen, Prag, insbesondere Kischs Prag, kennenzulernen. Ganz abgesehen davon: es war auch eine Chance, in das Land meiner Herkunft, Böhmen, zu fahren, das erstemal nach meiner Vertreibung.

Montag, 28. Dezember: Frankfurt 9.30 Abfahrt (mit Bus) nach Prag. Nachmittags in Nürnberg. Zum erstenmal innrhalb der Mauern Nürnbergs, vom Gewerbemuseumplatz wanderte ich an verfallenen Gebäuden vorbei enen Fluß entlang, Pegnitz, ich überquerte diesen und versuchte zunächst einen Reiseführer für Prag zu bekommen. Nichts da. Vom Hans-Sachs-Platz kam ich geradewegs zum Berg der Burg, ein steiler Anstieg führte hinauf zu einer Teilruine mit einem für diese Stadt charakteristischen Rundturm, der den weitgehend zerstörten, aber wohl restaurierten Teil der Burg beherrscht. Gegen 5 in Vohenstrauß. Dienstag, 29. Dezember: Vohenstrauß-Pilsen-Prag, an gegen 5 Uhr abends. Besuch der „Laterna Magika“, danach mit zwei Mädchen in einem Tanzlokal „5 R“ am Wenzelsplatz. Mittwoch, 30. Dezember: Vormittags Stadtrundfahrt. Nachmittags in der Altstadt: Rathausbesichtigung, Geburtshaus von E. E. Kisch (siehe Foto unten). Abends mit Hans Ambos im „5 R“. Donnerstag, 31. Dezember: Vormittags Besuch des Hradschins. Es konnte nicht anders kommen als wie ich es erwartet habe: Prag ist nicht in so wenigen Tagen kennenzulernen, wie uns zur Verfügung stehen. Die geschichtliche Tiefe, die durch jedes Bauwerk, jedes Denkmal, jeden Fuß Bodens dokumentiert wird, wollten und konnten mir nur Kulisse und Requisiten sein, vor denen sich das Leben der beiden K.s abgespielt hat: Kisch und Kafka.

Freitag, 1. Januar 1965: Prag. Im Fucik-Park, einer riesigen zweihalligen Anlage mit weiträumigem Auslauf, hellen Foyers, die bestückt waren mit Büffets, Wein- und Sektausschankstellen und einem Biergarten, verbrachte ich die Silvesternacht inmitten einer tanzfreudigen, saufenden Volksmenge, die sich diesen Abend einen schönen Batzen Geld kosten ließ, aber dafür auf ihre Kosten kam. Nachmittags Besuch von Lidice. Abends mit einigen Leuten der Busgesellschaft im „5 R“. Samstag, 2. Januar: Prag ab 14.30 (Stop zum Abendessen in Karlsbad; wegen veränderter Straßenführung zwischen Falkenau und Eger Umleitung über meinen Geburtsort Liebauthal, den ich - vom Bus aus und im Dunkeln - zum erstenmal nach der Vertreibung im Jahre 1946 ganz unerwartet wiedersah). Sonntag, 3. Januar: Frankfurt an gegen 10 Uhr morgens.

Eigene Fotos zu Prag:
Links: Blick auf den Altstädter Ring vom Rathausturm
Rechts: Der Innenhof des "Bärenhauses", Geburtshaus von Egon Erwin Kisch




















1973

Böhmen, Mähren, Österreich

Es war meine zweite Reise in mein Herkunftsland Böhmen, jetzt im Auto und zusammen mit Gertrud H., mit der ich seit etwa einem Monat verheiratet war. Diesmal wollte ich jene Orte aufsuchen, an denen ich die Tage meiner frühen Kindheit verbracht hatte, wozu neben meiner eigentlichen Heimatregion Egerland um Liebauthal und Königsberg an der Eger auch der böhmische Ort Babylon im Böhmerwald gehörte, eine Sommerfrische bei Taus, wo meine Großmutter Marie Nehyba als Oberschwester eines Reservelazaretts der Deutschen Wehrmacht tätig war und wo wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, sie mehrmals besuchten. In Erinnerung von diesen Besuchen ist mir nicht nur das Lazarett selbst, sondern auch das sogenannte "Strandbad" an einem der großen Teiche von Babylon (rechts Foto Sommer 1944: von links Marie Nehyba, der Autor, seine Mutter Marie Träger, sein Bruder Gerhard und eine Schwester des Lazaretts). Ein weiteres Ziel sollte Sternberg in Mähren, Herkunftsort meiner Vorfahren mütterlicherseits, sein. Und danach wollten wir nach Brünn fahren, um dort die Familie einer mit einem Studienfreund von mir verheirateten Tschechin zu besuchen.

Montag, 23. Juli: Morgens los. Mittags in Nürnberg, über Amberg nach Cham (hier Übernachtung, Doppelzimmer 39,20 Mark). Dienstag, 24. Juli: Cham-Furth i. W.-Grenze-Babylon-Bad Königswart–Königsberg a. d. Eger-Eger-danach in Liebauthal. Übernachtet in Eger, Hotel Slavie. Mittwoch, 25. Juli: Eger-Krainhof-Schönficht-Liebau-Golddorf-Kogerau–Liebauthal-Schaben-Haberspirk-Littengrün-Oberschossenreuth-Maria-Kulm-Soos- Franzensbad.
Hotel Slavie. Nach 27 Jahren wieder in einer Landschaft, die ich als Kind erlebte, in die ich hineingeboren wurde. Gestern sah ich Liebauthal wieder (rechts der Autor, auf sein Geburtshaus links im Bild blickend), aber es fehlte einiges von dem, das der Kindheit seinen Reiz gab, der die Erinnerung so lebendig hielt: die Luftbahn, der Park, die Stallung, das „Hufeisen“. Dort, wo sich ein Teil der Kindheit abspielte, hinter dem „Herrenhaus“, steht jetzt ein 126 m hoher Schornstein, der zum neuen Kesselhaus gehört, das auf dem Garten des „Hufeisens“ steht. Auf der Krommerschen Gärtnerei ist ein Betrieb, außerdem entsteht dort ein Geschäftszentrum. Ein Teil der großen Mietshäuser sind umgebaut (nicht abgerissen und neu gebaut, wie ich erst dachte). Das Haus Feistl noch so, wie es war. Mit einem Rupp Rudl (Rudolf Rupp)sprach ich, er wohnt genau über jener Wohnung, wo ich wohl geboren wurde. Die Fenster dieser Häuser, die in Richtung des Tales blickten, sind verschwunden. Der Blick hinunter von dem Platz vor den ehemaligen Fenstern ist durch Buschwerk versperrt.

Donnerstag, 26. Juli: Eger-Ellbogen-Karlsbad-Komotau-Brüx-Dux (Duchov)-Teplitz-Aussig (Regen, Regen)-Leitmeritz-Podebrady, hier übernachtet (in keiner der Städte, außer Dux, konnten wir entgegen unserer Absicht das Auto verlassen, weil es schwer regnete). Freitag, 27. Juli: Podebrady-Prag. Den ganzen Tag in Prag. Gertrud machte eine Stadtrundfahrt. Samstag, 28. Juli: Podebrady-Königgrätz-Mährisch-Trübau-Olmütz. Nachmittags nach Sternberg. Während der Fahrt von Podebrady nach Olmütz teilweise starker Regen. Olmütz, Hotel Palace Interhotel. - „Sternberg“ oder „Šternberk“ wie es die Tschechen sinnigerweise genannt haben (damals wusste ich noch nicht, dass diese tschechisierte Form von Sternberg bereits aus dem Mittelalter stammt), ist der Schauplatz unzähliger Geschichten, die ich in den vergangenen 30 Jahren hörte.
http://sternberg-in-maehren.blogspot.com/
Heute sah ich die Stadt zum erstenmal. Es war ein Tasten im Dunklen. Wo haben sich die Geschichten abgespielt? In welchen Straßen und Häusern (eigenes Foto von Sternberg 1973 links)? Niemand ist zu treffen, der Deutsch spricht, und der einzige, der es sehr leidlich konnte, der Kartenverkäufer auf der Burg, war ein Fremder. Wenigstens den Weg zum Friedhof konnte er angeben. Dort fast nur tschechische Namen. Eines Tages wird niemand mehr davon wissen, daß hier deutschsprachige Menschen lebten. Ist das von Bedeutung? Die Gleichgültigkeit der jetzigen Bewohner den Häusern gegenüber, die sie von den Vorbesitzern übernommen haben, läßt es zu zu sagen: ja. Verfall überal vom Egerland bis Nordmähren. So als ob sich die Okkupanten des neuen Besitzes nicht recht freuen könnten. Die böhmischen Dörfer und Städte im tschechischen Sprachbereich zeigen diesen Verfall nicht. Die mögen lange keine Renovierung erlebt haben, aber es erscheint alles bewohnt, belebt. Hierzu Olmütz (eigenes Foto rechts 1973): leer stehende Stadthäuser, ungenutzt, verlassen, als scheue man sich vor dem Besitz, der einem eigentlich nicht gehört.

Sonntag, 29. Juli:
Olmütz-Brünn (Besichtigung Spielberg, Rathausturm, Kapuzinergruft, anschließend zu Evas Familie (Eva Neumannova, verheiratet mit meinem ehemaligen Studienfreund Klaus Gebhardt). Mit ihnen an einem Stausee, abends in einem Restaurant gegessen. - Brünn, Studentenheim in der Leninova - Was vor 1945 hier im Lande geschah, ausgenommen die deutsche Besetzung, wird mit Schweigen übergangen. Daß dieses Land von 1918 bis 1938 eine Republik war, habe ich nur einmal im Zusammenhang mit Einkerkerungen in den Kasematten des Spielberges erwähnt gesehen. Der Schöpfer der Republik Masaryk wird totgeschwiegen. Nur was in den letzten 25 Jahren geschah, hat Bedeutung, und auch hier gelten gewichtige Ausnahmen. Dieser Prozeß der Zerstörung der Geschichte erschreckt mich, wohl weil er zeigt, wie leicht Menschen zu belügen sind und wie bedingungslos man bereit ist zu lügen.

Montag, 30. Juli:
Brünn-Bratislava–Grenze–Neusiedel a. See. Hier zur Übernachtung in ein Hotel. Dienstag, 31. Juli: Morgens eine Stunde im Neusiedler See gerudert. Neusiedel-Rust–Eisenstadt-Wien (Hotel Faist, Wien-Mähringen), abends Stadtbummel. Mittwoch, 1. August: Vormittags Schönbrunn-Belvedere. Nachmittags Stadt, danach Prater. Im Film: Der diskrete Charme der Bourgoisie (Bunuel). Donnerstag, 2. August: Wien-Autobahn-München (Galerie)–Augsburg–Zusmarshausen (hier übernachtet). Freitag, 3. August: Zusmarshausen-Gundelfingen (hier Besuch meiner Großtante Margarethe Tögl, geb. Sendler, Foto rechts mit ihrem Mann Alois Tögl)-Krofdorf. Hier festgestellt, daß meine Approbationsurkunde eingetroffen ist. Abends in Odenhausen (bei der Familie meines Bruders).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen