Sonntag, 28. Dezember 2008

1970: Wien

Es war meine erste Reise in die ehemalige "Kaiserstadt" an der Donau. Der Bahnfahrt ging ein eifriger Briefwechsel voraus mit Martin Deflorian, einem Tiroler, den ich seit meinem medizinischen Praktikum 1962 in Bedburg-Hau kannte und der noch immer, wenngleich kurz vor dem Examen, Medizin in Wien studierte (rechts eigenes Foto, aufgenommen in Wien). Die Fahrt nach Wien unterbrach ich, um Horst Schmidt, den alten Spezi aus Jugendtagen zu besuchen. Ich hatte ihn vermutlich zum letzten mal im Sommer 1967 gesehen, als er sich mir auf dem Weg nach Finnland anschließen wollte (siehe Post "Finnland 1963 und 1967"). Martin Deflorian nahm sich Jahre später das Leben, was ich allerdings erst während meines Aufenthalts 1988 in Wien als Korrespondent für "Medical Tribune" telefonisch von seinem Vater, einem Arzt in Kematen in Tirol, erfuhr, allerdings ohne nach dem Todesdatum zu fragen. Martin war besessen von Musik und verzweifelte möglicherweise an der Einsicht, selbst nie ein großer Musiker werden zu können.

Donnerstag, 30. April 1970: Nürnberg (Restaurant Fleischmann): Die „Reise“ fängt ja schon gut an! Daß ich Schmidt Horst aufsuchen wollte, ohne ihn vorher zu benachrichtigen, war wieder einmal ein besonderer Geniestreich. Wenn ich morgen nach Wien komme, wird wohl Martin auch nicht anzutreffen sein. Weiß der Teufel, mit meiner Reise will’s nicht klappen.

Freitag, 1. Mai: Doch noch bei Schmidt Horst (eigenes Foto links) übernachtet, nachdem ich ihn bei seiner Schwester angetroffen habe. Er macht einen zurückhaltenden, ruhigen Eindruck, der verstärkt wird durch die Erinnerung an ihn, da er ein völlig anderes Zustands- und Verhaltensbild zeigte. Gestern etwa war nicht zu erkennen, ob er sich freute oder ob ihm mein Kommen unangenehm war. Anfangs hatte sein Verhalten etwas unpersönliches, das allerdings im Laufe des Abends verflog. Ohne Ausfragen erzählte er nichts von seiner Beschäftigung in Nürnberg. Und als ich danach fragte, bekam ich unvollständige Antworten wie: „Ich lese“ oder „Ich gehe ins Konzert“. Im Gegensatz zu jenen Phasen, während derer er mir in den letzten 10 Jahren begegnet war (zum letzten Mal im Sommer 1967 in Hamburg), wirkte er geradezu introvertiert, allerdings scheint er sich nicht von der Umwelt abzukapseln, er hat Verbindungen zu einer Freundin, eine Engländerin, die er in Nürnberg in einem Cafe „angequatscht“ hat und die er später in London auch besuchte. Sie ist jetzt in Düsseldorf und will nach Frankfurt. Aber auch über dieses Verhältnis war nicht mehr zu erfahren, als daß er in London mit ihr die Wohnung teilte. Kein Hinweis auf Pläne mit ihr. Mit seinem homosexuellen Freund (ein amerikanischer Jude?) war er in Paris und hat dort mit ihm in einem Doppelbett geschlafen. Was liest er? Konkret, Spiegel, Warum ich kein Christ bin von Russell, Krahls Elend des Christentums, Jean Amery. Nach wie vor sammelt er Paul-Weber-Kalender. Weber scheint mit dem Herausgeber der Nürnberger Nachrichten Joseph Drexel befreundet zu sein. Drexel ist im Kalender zitiert und die NN drucken gelegentlich Weber Lithographien. Seine (Horsts) Mutter macht immer noch den Eindruck, als schwebe sie ständig in Angst um etwas. Sie ist tagsüber bei ihrer Tochter und versorgt dort deren etwa 8jährigen Sohn (Mark oder Michael). Horst erscheint vernünftig, ich meine damit, daß er Bescheid weiß. Er interessiert sich für „soziale Fragen“ im weitesten Sinne, seinen Informanten entsprechend. - Zwischen Regensburg und Passau, 11 Uhr: Jenseits des Donautals in Höhe Straubings sieht man den Bayr. Wald. Noch viel Schnee! Auf der Strecke: Plattling/Niederbayern. Welcher Fluß? Etwas weiter südlich: Die Bewölkung lockert sich auf, es scheint sogar manchmal die Sonne. - Wien: „Grüßense mir Deitschland“. „Das sagen die Nazis, die anderen wollen von Deitschland nix wissen. Mir worn immer schon national, noch vorm Hitler". - Wien, Stadtbahn, 16.35 Uhr: Es ist fatal, eigentlich genau so wie ich’s mir vorgestellt habe. Kein Martin da, kein Quartier. „Irgend etwas ist schiefgelaufen“, das sagte ich schon, als ich keinen Brief von Martin erhielt. Entweder er hat mein Schreiben nicht bekommen oder er dachte, daß ich nicht fahren würde. Nun sitze ich, gelinde gesagt, in der Scheiße.
Wien, Jugendgästehaus Hütteldorf, 19,45 Uhr: Die Schwierigkeiten des Reisens erfahre ich am drückendsten bei der Übernachtungssuche, wenn man nicht bereit oder in der Lage ist, viel Geld dafür auszugeben. Nachdem ich in diesem Gästehaus tatsächlich noch ein Bett bekommen habe, fuhr ich wieder zur Pfeilgasse (wo Martin in einem Studentenhaus wohnte) zurück. Dort zog ich mir andere Schuhe an. Inzwischen kam der Nachtportier. Und der wußte von Martin und einem Brief für mich. M. rechnete mit meiner Ankunft erst am Sonntag. Aha. Er hat anscheinend doch vorgesorgt. Martin schrieb, ohne Datum: „Ich komme erst am Sonntag aus Tirol zurück. Du wohnst die ersten beide Tage in der Jugendherberge: Jugendgästehaus Schloß Pötzleinsdorf 18. Bezirk Seymüllergasse 1 und dann in der Bahnhofsmission Boltzmanngasse 14 (Bitte schau im Tel. Buch nach) - die möchten gerne, daß Du Dich gleich meldest und mitteilst, wie lange Du bleibst. Geh, wenn Du nicht müde bist, in die Oper, es ist eine excellente Aufführung mit besten Sängern! Eine Karte kannst Du ja verklopfen, wenn Du willst, man wird sie Dir ‚aus der Hand reißen’. Machs gut und melde Dich bitte am Sonntag, Servus! Martin“. Mit Sack und Pack zog ich also hierher. Was ich morgen mit dem wertvollen Gepäck mache, ist mir noch rätselhaft. Erstmal geht wieder der run nach einem Schlafplatz los. Ich könnte jetzt über den Sinn einer solchen Reise nachdenken. Zu welchem Ergebnis käme ich wohl? Will ich Wien „kennenlernen“? Vermutlich steckt hinter dem Unternehmen der Wunsch, wieder einmal „raus aus Gießen“ zu kommen, ein wenig die Umgebung zu wechseln. Wien habe ich bisher vornehmlich aus der S-Bahn-Perspektive erlebt.

Samstag, 2. Mai: Wien, Pötzleinsdorf, Gästehaus. Von Hütteldorf schon sehr früh – um 7 Uhr morgens – nach Pötzleinsdorf umgezogen, wo ich für 2 Nächte bleiben kann, sicher würde es auch für länger möglich sein. Nachdem ich mit den S-Bahnen WQ und G und dann mit der Straßenbahn 41 hierher gekommen war, machte ich mich gleich wieder auf die Socken, zu Fuß in Richtung Innenstadt. Dort die „wichtigsten“ Sehenswürdigkeiten abgegrast: Graben, Kärtner Straße, das Palais der Habsburger. In einem Museum „Albertina“ fand eine Ausstellung von Plakaten aus der der Jugendstil-Epoche statt. Für die ganze Route hätte ich ein Rad gebraucht, schneller und bequemer. Jetzt bin ich müde und soll noch in die Oper, wozu es mir aus mancherlei Gründen an Lust gebricht. Was soll ich in einer Oper! Deflorian verschätzt sich bei meinen Interessen.

Samstagabend, Staatsoper: Man gibt Macbeth, Ich stehe, um zu hören und zu sehen. Dazu benutze ich ein Opernglas und erhöhe damit den Genuß, den man bei solchen Darbietungen empfinden muß, will man nicht der allerletzte Banause sein. Nach dem 7. Bild (von zehn) habe ich das Handtuch geworfen. Ich konnte nicht mehr stehen und die Szenerie kaum noch verfolgen. Müdigkeit und schmerzende Füße. Die Australierin, der ich eines der beiden Billets (Parterre Stehplatz. Gültig nur mit Schulausweis. 15 Schilling) gegeben habe, amüsiert sich. In der Ferne von der Bühne höre ich Christa Ludwig ihren Part schmettern.

Sonntag, 3. Mai: Jugendgästehaus Pötzleinsdorf: In Wien wird’s wärmer. Vorgestern konnte man glauben, der Winter sei noch nicht vorbei. Heute morgen das erste laue Lüftchen seit meiner Abreise. Und jetzt noch ein paar Worte zum gestrigen Opern-„Erlebnis“: Bei den Beurteilungen der Erscheinungen meiner Umwelt gehe ich fast immer von der Frage aus, inwieweit sie das Denkvermögen beeinflussen und der Vernunft ein bißchen weiterhelfen können. Warum sollte ich davon Opern ausschließen? Die Oper wird – so sagen die meisten – als großer Genuß empfunden in musikalischer und darstellerischer Hinsicht. Nun wäre ich der letzte, der den Menschen von irgend welchen Genüssen abraten wollte. Nur mit der Oper herkömmlicher Art hat es mehr auf sich als nur die Freude an Musik und Handlung. Die Oper kann nur gesehen werden im Zusammenhang mit einer rein bürgerlichen Kultur, die „Werte“ anerkennt, die mit meiner Auffassung von „Kultur“ nichts oder nur wenig gemeinsam haben. Die bürgerliche Welt tritt als Bewahrerin des „Althergebrachten“ auf, sie verteidigt Tugenden, die sich bei genauerem Hinsehen als Instrumente der Unterdrückung, Orthodoxie und Verdummung erweisen. Ich nenne hier nur den Vollzug von Racheakten, der als vollkommen in das eigene Denken und die eigene Vorstellungswelt integriert angesehen wird. Oder den Sieg des Guten über das Böse etc. Vorstellungen und Anschauungen dieser Art, die „Kunstwerke“ wie Opern ins Bühnenhafte transformieren, decken sich nicht mit meinen eigenen Vorstellungen.

Montag, 3. Mai: Wien, am Prater: Also machte ich mich auf den Weg, um das Haus Hernalser Gürtel 4 zu suchen und dort nach Hans Potrebny (mit dem ich 1958 durch Hamburg gestreift war) zu fragen. Ein großes Mietshaus, im 2. Stock mit 17 nummerierte Wohnung. Eine Frau in Putzfrauenhabit öffnete. Ich sagte mein Sprüchlein auf. Sie Mißtrauen in allen Mienen. Es war die Mutter des Gesuchten, ihr Mann sei kurz weg, komme aber bald wieder, mit den Enkeln. Immerhin bat sie mich nach einiger Zeit des Beschnupperns ins Wohnzimmer. Sie erzählt, wie tüchtig ihr Sohn sei, aber auch wie „gut“ (leichtsinnig) und allzu weich für das Geschäft, das er sich aufgebaut hat. Dann kommt Herr P. Begrüßung, wieder meine Geschichte. Sie bietet mir Kuchen und Kaffee an (vorher allerdings schon Cognac). Sehr kleinbürgerliche Leute, sehr besorgt und ängstlich und stolz darauf, wie hart ihr Sohn arbeitet. Kein Gedanke daran, ob diese Arbeit ihn nicht vielleicht die Gesundheit kosten könnte. Eigentlich habe ich mir Herrn P. anders vorgestellt (er soll Croupier gewesen sein und früher mit seiner Familie als Textilfachmann in Frankreich gelebt haben), nicht so kleinbürgerlich („Heute gibt’s mehr Raubüberfälle als früher, früher hatten wir keinen Polizeistaat aber noch Sicherheit, heute gibt es viele Polizisten aber man muß Angst vor Verbrechern haben“). Aber er zeigt mehr Verständnis für die früheren Kapriolen seines Sohnes. Sie hingegen über seine „Gutmütigkeit“: „Einmal hat er einen Bietl (womit sie wahrscheinlich einen Langhaarigen meinte) in seine Wohnung aufgenommen. Also wir sind ja katholisch und helfen schon einmal, wenn es notwendig ist, aber das geht doch zu weit“. (Ich erfuhr von Herrn Potrebny, dass sein Sohn in der Nähe Stuttgarts ein Geschäft für Geschenkartikel speziell für dort stationierte amerikanische Soldaten besitze). - Im Prater, 14 Uhr (eigenes Foto links): Es riecht nach Knoblauch, dort, wo die Luft des Praters nicht durch die Auspuffgase der diversen Klein-Rennautos verpestet ist, schwingt ein Duft nach Knoblauch mit. Der Balkan ist nicht weit. Ich vermute, auf die „echt ungarischen Langos“, von denen ich auch eines (tatsächlich zwei für 8 Schillinge) mit Genuß verspeist habe, kann man sich eine Knoblauchtunke streichen lassen. Es ist Sonntagnachmittags-Betrieb. Mir gefällt es hier.

Heldenplatz,
16.20 Uhr: Da gruppiert sie sich um den „Heldenplatz“, die alte Herrlichkeit des Habsburgerreiches, architektonisch, monumental komprimiert. Hier liefen die Fäden einer weltbeherrschenden Maschinerie zusammen. Hierher floß das Geld, das die Statthalter des Kaisertums aus den Untertanen der Monarchie herauspreßten. Hier wurden die Aufmarschpläne der Generäle gutgeheißen oder verworfen. Unmittelbar vor mir das vorwärtstrebende Reiterstandbild Prinz Eugens, in Bronze auf einem Steinsockel mit Gesims. Die eingerollte Fahne in der rechten, nach oben gereckten Hand, führt er die Soldadeska gegen die Türken. Der Befreier Europas von den Türken war wohl in Wirklichkeit nicht mehr (oder nicht weniger) als der Retter der Dynastie und der sie stützenden Kreise, nur sie hatten die Türken zu fürchten. Inschrift auf dem Denkmal: „Dem beharrlichen Kämpfer für Deutschlands Ehre“. Am unteren Rand des Steinsockels sitzt ein Mensch mit grauen Anzug und Bart. Er läßt ein paar Nagetiere dort spazieren laufen. Es gibt seltsame Käuze.

In einem Gasthaus an der Josefstädter Straße, 17.15: Die Wiener Journaille hat nichts dazu gelernt.. Die von ihr gemachten Zeitungen (bisher habe ich allerdings nur Die Presse, Expreß am Sonntag und ein kommunistisches Blättchen gelesen) atmen den Geist der Inhumanität, wie er kaum durch die Blätter Springers weht. Deutlich der Russen-Haß und die kritiklose Behandlung amerikanischer Taten. Kraus, der sein Leben lang gegen die Unmenschlichkeit der Zeitungsschreiber zu Felde gezogen war, blieb erfolglos.

Montag, 4. Mai: In der Linie 41, Trambahnhof Pötzleinsdorf: Wieder ein Umzug (in ein Hospiz der Katholischen Bahnhofsmission, Boltzmanngasse 14, vermittelt durch Deflorian). Aber das Wetter ist so phantastisch, daß ich nicht unwillig bin. Gestern Abend traf ich Martin. Er hatte schon am ganzen Sonntag auf mich gewartet, weil ich dem Irrtum verfallen war, er komme erst am Abend zurück. – Im Eingangsraum des Studentenhauses Pfeilgasse 1, 13.45: Dieser Deflorian ist ein Narr. Er will alles tun und dabei findet er keine Zeit dazu, Zeit zu haben. Die Hektik bereitet mir Unbehagen. Er verspricht allen möglichen Leuten alles mögliche. Heute „mußte“ er einem Kollegen beim Examen „einsagen“. Die Sache dauerte so lange, daß er danach wie ein gehetztes Tier in der Stadt verschwand, um in der Musik-Akademie billige Opernkarten zu erwischen.

„Am Hof“, auf einer Bank neben der „Mariensäule“, 16.25: Ich bin müde, und wenn ich in solche Zustände gerate, muß ich fast zwangsläufig über den Sinn solcher Stadtläufereien nachdenken (dieses „nachdenken“ ist etwas übertrieben). Literarische Zeugnisse haben mich immer schon am leichtesten bewogen, etwas zu unternehmen. Wenn ich den Schauplatz einer Handlung oder den Lebensraum eines Literaten nachspüre, so „weiß“ ich danach mehr als vorher, da ich nur von Buchstaben informiert wurde.

Burgtheater, 20.15, in der Pause „Der Besuch der alten Dame“ (Parterre Stehplatz, gültig nur mit Schulausweis, S 10.-): Das Stehen ist furchtbar. Ich sitze hier auf einer Diele zwischen dem Ende des Treppenaufganges und der Tür zum Foyer. Kein „erhebenden“ Gefühl, weil es die Unbequemlichkeit der Schaugelegenheit nicht zuläßt. Über der Eingangshalle hängen drei Glas(unleserlich): Hauptrolle Alfred Ill spielt Ewald Balser.

5. Mai: Nachmittags: Im Arsenal (Militärhistorisches Museum). Im Saal, wo der Wagen steht, in dem Erzherzog Franz Ferdinand ermordet wurde: 56 Jahre nach dem Attentat, das als Vorwand für den ersten ganz großen Krieg der Menschen herhalten mußte, betrachtet man die Gegenstände wie eine Art Reliquien. Das Auto, einer Kutsche noch ähnlicher als einem Motorfahrzeug, steht da, dunkel und fast unberührt aussehend. In einer Glasvitrine liegen die Uniformstücke, die der Getötete zum Zeitpunkt der Tat trug, die Brustseite zerfetzt, verschmiert, die Hose ebenfalls. Blaue Uniformjacke mit zwei Reihen goldfarbenen Knöpfen. Dunkelblaue Hose mit roten Seitenstreifen. Kopfbedeckung unter herabhängenden Federn, grün. Die Jacke hat Riß von li Schulter bis zur linken Knopfreihe. Vormittags war ich in den Anlagen des Schlosses Schönbrunn.

Dr. Karl Lueger-Platz: Die Menschen besitzen die Gabe. mehrere einander widersprechende Handlungsweisen in Übereinstimmung zu bringen, und das nur einfach damit, daß sie sich weigern, die Widersprüche zu erkennen und daraus bestimmte Folgerungen zu ziehen.

In der „Kapuzinergruft“ ist mir das wieder einmal deutlich geworden (in den Worten der Führerin). Kirche und Thron bedienten sich der Gewalt und der Lüge, um an der Macht zu bleiben, das gab sie zu. Dennoch blieben ihre Worte voller Bewunderung für „unser Kaiserhaus“. Aus dem Wissen um den unheilvollen Einfluß der Macht „Kirche“ leitet man nicht ab, daß sie verschwinden müßte, daß man sich dagegen empören müßte. Die Habsburger Kaiser werden als Institution dargestellt, deren Aufgabe es war, das Reich zu mehren, indem sie möglichst viele Kinder zeugten, von denen dann meist nur ein paar übrig blieben – und sich dem spanischen Hofzeremoniell unterwarfen. Eine blutige Spur zieht durch die Geschichte dieser Dynastie: Gewalt gegen die eigenen „Untertanen“, Gewalt in mannigfacher Form, Unerbittlichkeit gegen Nicht-Katholiken, ein Zeugnis für die Verquickung von Staat und Kirche. Die Rolle der Kirche, einer Kirche, die heute noch Macht und Ansehen genießt, dürfte dabei von besonderem Interesse sein. Herrscher und Beherrschte, Habsburg und seine Untertanen geben wohl eines der besten Beispiele für diesen unauflösbaren Gegensatz (damals wusste ich noch nicht, dass mein Großvater Anton Träger, ein Untertan Habsburgs, unter Hinterlassung von Frau und drei Kindern bald nach Beginn des 1. Weltkriegs in Serbien umgekommen ist, mein Zorn wäre noch größer geworden).Im Hospiz, 15.20: Deflorian gehört zu jener Kategorie von Menschen, von denen ich sagen kann, daß ich aus ihr nicht klug werde. Beim Versuch, ihn mit Eigenschaftswörtern zu kennzeichnen, fällt mir als erstes „sprunghaft“ ein. Aber ich weiß zugleich, daß diese Bezeichnung ohne Erklärung falsch ist. D. ist ein Mensch, der alles erleben will, was ihm des Erlebens wert erscheint. Für ihn ist der Umgang mit Menschen und mit den herkömmlichen Formen der Kunst notwendig, um seiner Art gemäß leben zu können. Seine Beziehungen zur „Kunst“ erklärt er sich selbst damit, daß er sehr leicht von mystisch gefärbten Erscheinungen erregt werde. Seine Vorliebe gelte daher „romantischen“ Werken. Vielleicht bezeichnenderweise läßt ihn „Politik“ kalt. Sein Urteil, daß er über die Zeitung „Die Presse“ abgab, offenbarte sein Verhältnis zur Presse: er lese sowieso nur das Feuilleton, und das sei in dieser Zeitung gut. Für ihn reduziert sich das Leben, das ihn berührt und dem er Bedeutung beimißt, auf das Feuilletonistische, das, sich selbst einlullend mit schönen Worten und großen Gesten, zur eigentlichen Tragödie des Lebendigen in eigentümlicher Weise beziehungslos bleibt, distanziert, ja gefühllos. Was sich auf der Bühne der „Staatsoper“ oder der „Burg“ im wahren Wortsinn nur abspielt, kann diesen Menschen begeistern und in Aufregung versetzen, hier kann er zustimmen oder ablehnen, hier engagiert er sich, nimmt teil und erklärt sich solidarisch. Denn, so kann man schließen, hier vollzieht sich Kunst, hier werden menschliche Schicksale so sublimiert, daß sie keinen Wirklichkeitswert mehr haben sondern als etwas Traumhaftes, von Künstlern Geschaffenes, von den Sinnen wahrgenommen werden. Die eigentliche „Tragödie des Lebendigen“ in den Formen von Kriegen, Ausbeutung und großangelegten Betrugsaffären sind solchen „Künstlernaturen“ etwas Ungenießbares, vielleicht weil sie zuwenig dramaturgische Effekte zu bieten haben oder weil sei eben nicht, wie das Bühnengeschehen, um 19.30 Uhr beginnen und mit einer Pause dazwischen um 22 Uhr zu Ende sind. Andererseits, ja andererseits steht dieser Mensch durchaus auf dem „harten Boden der Wirklichkeit“. Seine Art, Freunden zu helfen, ihnen zu Gefallen zu sein, hat etwas Überwältigendes an sich. Er läuft in die Universität, um einem Studienkollegen „einzusagen“, damit der nicht noch einmal durch die Prüfung in Psychiatrie fällt. Er kämpft in der Musikakademie um billige Theaterkarten, „weil ich’s ein paar Leuten versprochen habe“. Seine handfeste pragmatische Aktivität hat etwas atemberaubendes an sich.
Konzerthaus: Eva Graberova (Sopran), Gerhard Unger (Tenor), Heinz Zednik (Tenor), Peter Binder (Bariton); Wiener Symphoniker, Wiener Singakademie, Wiener Kammerchor, Catulli carmina, Carmina burana. Dir.: Heinrich Hollreiser.

Donnerstag, 7. Mai: Hospiz. Zu mehr als dem Abschreiben der Mitwirkenden bin ich gestern abend während des Orff-Konzertes (im prächtigen Saal des Musikvereins) nicht gekommen. Die Sache begann abenteuerlich: über die Hintertreppe, die nur von den Akteuren benutzt werden darf, drangen wir in das Foyer der Aufführungshalle im (1. oder 2.) Stockwerk vor. Dann schritten wir zu Dritt ganz frech an dem Türbeschließer vorbei in das Stehparkett ein. In der Pause versuchten wir uns sogar im Sitzparkett, scheiterten aber daran, daß wir – unnötigerweise – zusammenliegende leere Plätze suchten. Als ein Mann mit Binde schließlich auf uns aufmerksam wurde, zogen wir uns wieder auf die bescheideneren Stehplätze zurück. Die „Carmina burana“ fesselte allerdings so sehr – soweit mich diese Musik überhaupt fesseln kann – daß mir das Stehen nicht mehr so schwer fiel, wie in den drei anderen Tagen vorher besuchten Aufführungen (neben den bereits erwähnten „Macbeth“ und „Der Besuch der alten Dame“ am 3. Mai noch die Oper „Ariadne auf Naxos“). Deflorian hatte sich vor dem Beginn mit privatem Sing-Sang der Carmina burana produziert. Das Spiel setzte er nachher fort.

Ganz in der Nähe, in einer Seitengasse der Boltzmanngasse - in der Strudelhofgasse – finden die SALT-Gespräche statt (in der Botschaft der USA, erinnere ich mich richtig, handelte es sich dabei um „Abrüstungsgespräche“ zwischen Amerika und Russland).

Stiftskirche Klosterneuburg: Hier sind noch 60 Augustinermönche. Hörte ich gerade in einer Kirchenbank sitzend von einem der Mönche in schwarzem Kleid mit einer weißen (ja was) Stola oder etwas ähnlichem. Die Kirche ist in barocker Manier erbaut (kann man nicht sagen, sie wurde nur barock umgestaltet und umgebaut), mit einem Schiff, von dem an beiden Längsseiten je drei Altarnischen abgehen. Die Kirche ist von einem milden Weihrauchgeruch erfüllt, den man gegen das einfallende Licht als leicht bläulichen Nebel erkennen kann. An der Säule vor der ersten Altarnische links hängt ein Relief Anton Bruckners. Er hat auf der Orgel der Kirche gespielt. Die Atmosphäre, gespeist von Weihrauch, einem zwielichtigen Dunkel und der gerade verklungenen Orgelmusik, hat etwas berauschendes. Wie verständlich wird einem da die „Macht der Kirche“. Sie berauschte die Menschen und zerschlug ihnen danach Geist und Körper. Die klerikalen Schinder hatten leichtes Spiel.

Hospiz, 19 Uhr: Die „Pummerin“ ist eine aus dem 16. Jahrhundert stammende Glocke in der Stiftskirche von Klosterneuburg. Obwohl sie rund 11 km vom Stephansdom entfernt liegt, soll sie die Glocken des Domes überstimmt haben. Maria Theresia sei darüber so verärgert gewesen, daß sie die Glocke mit 12 Nieten spickte, um ihren Klang zu zerstören. Eine schöne Geschichte.
Kino Schottenring, 20.10: Warum paart man sich eigentlich so gerne, wo doch bei näherem Hinsehen die Nachteile solchen Verhaltens deutlich werden? Seltsam, wirklich seltsam!

Samstag, 9. Mai: Kahlenberg (483 m ü. M.), 13.50: Vom Kahlenberg oder vom Leopoldsberg aus auf das Donautal und auf das jenseits davon liegende Land hinunterzuschauen ist – mit Deflorian zu sprechen – „unbeschreiblich schön“. Landschaft bewegt mich. In ihr kann man sich widerspiegeln und sich gleichzeitig verlieren. Das ferne Land am Horizont reizt dazu, es zu suchen, ihm entgegenzugehen. In solchen Stunden erfahre ich, was mich dazu treibt „hineinzufahren“. Diese Welt will erlebt sein, ich meine: auch dieses Seite der Welt. Die Landschaft ist eine ihrer zahlreichen Facetten.

Grinzing, 15 Uhr. In einem Heurigen-Garten: Der Sommer kündigt sich an. Ich sitze hier im Schatten einer Markise auf der Terrasse beim Heurigen. Der eben genossene „Apfelstrudel“ hat mich doch enttäuscht: gewöhnlicher Blätterteig mit Apfelfüllung. Eigentlich habe ich etwas anderes erwartet. Der Wein tut schon seine Wirkung. Rote Stühle und einbeinige Tische mit gelben Tischplatten, vor mir eine Gesellschaft „älterer Herrschaften“, sehr laut, sehr fröhlich. Pärchen an den runden Tischen, dicke Damen Kuchen („Mehlspeis“) verdrückend an anderen. Bei der Gesellschaft geht es um eine Katze, die der Vater einer der Frauen vor 40 Jahren hatte.

10. Mai: Wien, Westbahnhof: Ich sitze im „Mozart“ 15 Minuten vor dem Verlassen der Stadt. Unausgeschlafen, denn gestern abend nach Nestroys „Einen Jux will er sich machen“ im Burgtheater, in der Hauptrolle Josef Meinrad, blieben wir noch ein paar Stunden zusammen, im Cafe Hawelka und am Theseus-Tempel (eigens Foto links, Martin Deflorian, 2. von links). Es war amüsant, mehr weiß ich dazu jetzt nicht zu sagen.

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